Mittwoch, 16. November 2016

Sehen lernen mit Architektur - Der Kirchenneubau von St. Canisius in Berlin

Gerade habe ich einen Oasentag für das Kollegium einer katholischen Grundschule in Berlin gestaltet. Orte der Veranstaltung waren der Gemeindesaal und die Kirche von St. Canisius im Berliner Stadtteil Charlottenburg.
Weil ich die Architektur und Ausgestaltung dieses Kirchenneubaus von 2002 so schön finde, habe ich mir aus diesem Anlass einige Gedanken dazu gemacht und aufgeschrieben.

Blick nach außen. St. Canisius, Berlin, 2016.
Raumgestalt
Zwei riesige Betonquader bilden die heutige Kirche – bestehend aus einem offenen und einem geschlossenen Raum. Wer sich in dem lichten hohen und zugleich geschlossenen Raum befindet und durch die riesige Glasfront nach draußen in den offenen Raum schaut, sieht einen im besten Sinne des Wortes unnützen Raum. Für eine normale liturgische Feier ist er schlicht überflüssig. So kann man zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen, ob es sich hierbei um einen einzigen, aber halbierten Kirchenraum oder um einen "richtigen" nur innen liegenden Kirchenraum oder um zwei Kirchenräume handelt.
Wie auch immer man seinen inneren Blick einstellt, immer handelt man sich dabei die Frage ein, als was dieser offene Raum da draußen anzusehen ist: als Verbindung mit der Welt und damit als Schritt aus einem geschlossenen Denkkreis in größere Offenheit – oder aber als trennender Riss, der durch die Möglichkeit des Blickes hinaus schmerzlich bewusst macht, dass die Welt da draußen anders tickt als die Kirche drinnen.

Altar
Beides, Verbindung und Trennung, werden durch die Altargestalt (eine Arbeit des Bildhauers Guy Charlier) betont. Denn der nahezu rohe Block aus burgundischem Kalkstein, der im Kirchenraum steht, findet sein Gegenüber im Altar-Block des offenen Raumes.
Es gilt dasselbe wie eben: Das kann verbindend wirken – die Kirche hat einen Stand in der Welt draußen. Oder auch trennend – da ist etwas abgebrochen.
Es kommt auf die eigene Perspektive an, was ich sehe. Und ob ich diese meine Sicht auf die Welt im Prozess der Aneignung des Raumes anfragen lasse.
Außenraum bei Nacht.
St. Canisius, Berlin, 2016.
Und diese Perspektive vermag auch Einfluss auf mein Gottesbild zu haben. Bete ich mit dem Psalmisten: "Sei mir ein schützender Fels, eine feste Burg, die mich rettet." (Ps 31,3), dann ist eben fraglich, ob Gott mir ein zerbrochener Fels ist, der keinen Schutz mehr gewähren kann – oder ob er mir ein gespaltener Fels ist, der im Binnenraum der Kirche anders ist als außen – oder ob gerade diese göttliche Allgegenwart außen und innen seine Stärke ist...
Letzteres wäre ganz im Sinne einer Jesuitenkirche, heißt doch ein spirituelles Motto dieses Ordens "Gott in allen Dingen suchen und finden".1

Der Boden
Noch etwas anderes hilft, die Raumgestalt weiter zu erschließen: wenn ich mich entscheide, auch den offenen Raum als Teil des Kirchenraumes anzusehen, dann wird die Welt dadurch in die Kirche hineingeholt.
Diese Sichtweise würde bestätigt, wenn man den Boden der Kirche in ähnlicher Weise deutet.
Die Kirche wurde als "Kirche am Weg" konzipiert, was gestalterisch besonders durch die Aufnahme des Straßenpflasters als Boden der Kirche aufgenommen wird.
Auf diese Weise holt die Architektur den Alltagsboden in den heiligen Raum hinein. Die Besucherinnen und Besucher der Kirche können also auf dem gleichen Grund stehen, wenn sie innerhalb und wenn sie außerhalb der Kirche mit Gott in Kontakt treten. Gottesdienst und Alltag, Beten und Arbeiten, Feiern und Leben gehören zusammen. Da ist kein grundsätzlicher Unterschied zwischen dem Innenraum und dem Außenraum.
Wahrscheinlich ist draußen auf der Straße auch ein guter Ort, um Jesus zu finden. Immerhin hat Jesus von sich gesagt: "Ich bin der Weg" (Joh 14,6) und nicht "Ich bin der Sakralbau". Dementsprechend werden auch seit einigen Jahren "Straßenexerzitien" angeboten.

Der Goldgrund
Von einer weiteren Seite nähert sich ein Bildwerk im Kirchenraum dem Verhältnis von profan und sakral. Wenn schon durch den Straßenboden in der Kirche daran erinnert wird, dass das Heilige sich im Profanen finden lässt, dann geht diese spezifische "Sehfelderweiterung" weiter im Bild "Golden field" von Winfried Muthesius.
Im Rahmen des Ökumenischen Kirchentags in Berlin 2003 entstanden, weist es, ebenso wie der goldene Hintergrund orthodoxer Ikonen, auf die Aufladung einer Situation mit religiösem Gehalt hin. Die Ikonen zeigen das Auftreten einer besonders vom göttlichen Glanz durchstrahlten Person mit dem Goldgrund an.
Ähnliches lässt sich hier denken: Das Bild erinnert an den göttlichen Goldgrund, vor dem wir alles betrachten dürfen – nicht nur das Brot, das der Priester bei der Wandlung vor dem goldenen Feld erhebt.
Blick zum Altar. St. Canisius, Berlin, 2016.
Alles nämlich lässt sich unter der Perspektive der göttlichen Liebe sehen, die alles immerfort umgibt: meine nervigen Arbeitskollegen, die schwierige Weltlage, der Bettler in der S-Bahn, jene quengelnde Kinder dort oder der trottelige Autofahrer vor mir.
Ignatius von Loyola versucht im Exerzitienbuch diesen Goldgrund des Lebens in seiner "Betrachtung zur Erlangung der Liebe" hervorzuheben.
Der Exerzitant bekommt dort anfangs die Anweisung, er solle um "innere Erkenntnis von soviel empfangenem Guten bitten, damit ich, indem ich es gänzlich anerkenne, in allem seine göttliche Majestät lieben und ihr dienen kann." (GÜ 233) Denn wer das Gute im eigenen Leben und in der ganzen Welt sieht und sich die "empfangenen Wohltaten von Schöpfung, Erlösung und besonderen Gaben ins Gedächtnis" (GÜ 234) bringt, so die Prämisse des Ignatius, der wird durch diese Dankbarkeit ganz von selbst zur Liebe geführt.
Wenn einer Gottes Güte zu sehen vermag, wird er auch Gottes Liebe leuchten sehen und selber zu leuchten beginnen.

Der Lichtschacht am Tabernakel
Das führt nun zu einem letzten Ort im Kirchenraum, den ich bemerkenswert finde.
Über dem Tabernakel scheint ein weiterer Gedanke aus der genannten Betrachtung aufgenommen worden zu sein. Gedanklich ist das zwar etwas konventionell, aber dafür mit hohem architektonischen Aufwand und beachtlicher ästhetischer Wirkung in Szene gesetzt.
Wenn genau dort, wo das Allerheiligste aufbewahrt wird, ein Lichtweg sich von oben nach unten erstreckt, klingen nämlich folgende Anweisungen an den Betenden sehr einleuchtend: "Schauen, wie alle Güter und Gaben von oben herabsteigen, etwa meine bemessene Macht von der höchsten und unendlichen von oben, und genauso Gerechtigkeit, Güte, Freundlichkeit, Barmherzigkeit usw.; so wie von der Sonne die Strahlen herabsteigen, vom Quell die Wasser usw." (GÜ 237)
Blick nach oben. St. Canisius, Berlin, 2016.
Genau diese himmlische Geschenkstruktur der Welt ist hier wohl gebaut worden.
Die Verbindung zwischen Himmel und Erde wird dort, wo sich das gewandelte Brot befindet, in ein besonderes Licht getaucht; oder auch: der Himmel ist offen dort, wo die Hingabe Jesu sich in der eucharistischen Gestalt kristallisiert.

Alles in allem ein (von den Architekten sicher nicht in dieser Weise angezielt, aber nichtsdestotrotz) überaus ignatianisch inspirierender und beeindruckender Ort des Gebets und der gottesdienstlichen Feier.


1   Vgl. dazu den Brief des Ignatius vom 1. Juni 1551 an Antonio Brandão: "Sie [die Studenten] können sich ... darin üben, die Gegenwart unseres Herrn in allen Dingen zu suchen, wie im Umgang mit jemand, im Gehen, Sehen, Schmecken, Hören, Verstehen und in allem, was wir tun; denn es ist wahr, daß seine göttliche Majestät durch Gegenwart, Macht und Wesen in allen Dingen ist“ In: Ignatius von Loyola: Briefe und Unterweisungen. Übers. von Peter Knauer. Würzburg 1993, 346-353, hier 350.