In vielen derzeit geführten
Diskussionen drängt sich der Eindruck auf, dass wir nicht nur
politisch und gesellschaftlich, sondern auch kirchlich vor gewaltigen
Umbrüchen und in einer Art "Wendezeit" stehen. Für die
gesellschaftliche Sphäre hat dies Klaus Mertes gerade in der
Herder-Korrespondenz mit Blick auf die damit gegebenen Potenziale zu
eigenen Kurskorrekturen analysiert.
Aber auch innerhalb der katholischen
Kirche sind spätestens seit den Skandalen um Missbrauch,
Kirchenfinanzen, Vatikanpolitik und angesichts der europäischen
Glaubenskrise die Diskussionen neu geöffnet worden. Kurienreform,
Familienethik, Vatikanfinanzen und eine Reihe weiterer Punkte stehen
im Fokus.
Blick in den Sakramentsturm. Abtei Königsmünster, Meschede, 2015. |
Der Münsteraner Kirchenhistoriker
Hubert Wolf hat nun ein lesenswertes Buch vorgelegt, dass Anstöße aus der
Geschichte der Kirche geben will, in welche Richtung sich
Veränderungen bewegen können. Sein "Ziel ist es zu zeigen,
wie sich die Kirche entwickelte, wie sie auf gesellschaftliche
Herausforderungen reagierte und sich veränderte. Dadurch werden neue
alte Möglichkeiten in Erinnerung gerufen, was dazu beitragen kann,
die heutigen Reformdiskussionen auf der Basis der ganzen Breite der
kirchlichen Tradition zu führen."1
Dafür stellt er eine Reihe in der
Kirchengeschichte auftauchender Exempel vor und begrüßt damit
ausdrücklich die Linie des Pontifikates von Papst Franziskus, das
auch inner- und außerhalb der Kirche viele Menschen inspiriert.
Insgesamt sind es fat durchweg kirchenpolitische und -rechtliche
Fragen, wie die Bischofswahl oder -ernennung, die Rolle von Frauen
mit kirchenamtlichen Vollmachten, die Stellung des Papstes und der
kirchlichen Zentralgewalt gegenüber den Gemeinden und Ortskirchen
oder die Rolle von Laien. Gerade die deutsche Kirchengeschichte
bietet ihm ein reiches Reservoir an Beispielen, von
Bischofswahlrechten über deutschen Vereinskatholizismus bis zu den
Rechten des Domkapitels gegenüber seinem Bischof.
Mit einem Grundwissen an
Kirchengeschichte, wie es mir zu eigen ist, hat man zwar vieles schon
einmal gehört, bekommt hier aber in einem guten Überblick noch
einmal eine Reihe interessanter Themen stilistisch und theologisch
klar aufbereitet vorgestellt. Für Nichttheologen ist es ein
geradeaus formulierter, aber nicht unterkomplexer Einstieg in einige
Spezialthemen der Kirchengeschichte bis ins späte 20. Jahrhundert
hinein. Durch mannigfache Beispiele zeigt er die Aktualität wie zum
Beispiel die Möglichkeit von kirchlichen Leitung durch Frauen, wenn
keine sakramentalen Kompetenzen nötig sind.
Lüftung, alt und neu. Jena-Zwätzen, 2015. |
An vielen Stellen nimmt Wolf gerade das
Zweite Vatikanum und die darauf folgenden Jahrzehnte mit den
unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen der Pontifikate auf und
bewertet die Impulse des Konzils ebenso detaillert wie die oft
eingrenzenden, bisweilen auch weiterführenden Maßnahmen des
römischen Lehramtes.
Deutlich macht er dabei immer wieder,
dass das Zweite Vatikanum kein Allheilmittel, aber auch kein
Zerstörungsbeschleuiger im kirchlichen Leben darstellt, sondern dass
es in einer langen Reihe unterschiedlicher Akzente und
Reformbestrebungen steht, und in seinen verschiedenen Auswirkungen
durchaus unterschiedlich bewertet werden kann. Beispielsweise hat es
zwar die Rolle des Diözesanbischofs gegenüber dem päpstlichen
Primates aufgewertet, dies aber "führte – absichtlich oder
unabsichtlich – zu einer Abwertung aller anderen Glieder der
Kirche, denn nach dem derzeit geltenden Kirchenrecht kann der Papst
nur noch Männer zu Kardinälen ernennen, die zumindest bereits die
Priesterweihe empfangen haben".2
Deutlich grenzt Wolf sich außerdem ab
gegen restaurative Tendenzen und unhistorische Deutungen des
Tridentinums. Was dieses Konzil tatsächlich wollte und was seit dem
19. Jahrhundert daraus gemacht wurde, entlarvt er als Mythen eines
"'erfundenen' Tridentinums".3
Weder das tridentinische Seminar, noch das Bischofsideal oder gar die
tridentinische Messe halten einer Verklärung stand, die historische
Entwicklungsstufenen als überhistorische Ideale festschreiben will.
Dagegen zeigen sich die Traditionen der Kirche "- wenn man
sich ihnen ohne ideologische Scheuklappen und enge dogmatische
Vorannahmen nähert – als ungeheuer reichhaltig und pluriform. Sie
gleichen einem breiten, mächtigen Strom, der sich im Lauf der
Geschichte immer wieder ein neues Bett gesucht und sich jeder
Begradigung und Kanalisierung entzogen hat. Der katholische
Traditionsstrom war nie auf ein enges, unveränderliches Flussbett
beschränkt, sondern floss immer wieder in neue Richtungen, änderte
seine Geschwindigkeit und verästelte sich."4
Diese angstlose Weite, die sich aus der
Beschäftigung mit verschiedensten Phänomenen aus der Geschichte des
kirchlichen Lebens speist, tut dem Buch gut und zeigt, dass Hoffnung
und Zuversicht innerkirchlich keine Illusionen sein müssen. Leider
aber findet sich dabei keine Antwort auf die dingende Frage, wie der
schwindenden Glaubenssubstanz in Mitteleuropa geholfen werden kann
und was kirchengeschichtlichen Mut zum individuellen christlichen
Selbstverständnis geben könnte – das steht auf einem anderen
Blatt und verdient ein weiteres spannendes Buch.
Summarisch also ist dies ein äußerst
spannendes Buch, das neue-alte Impulse setzen kann und Mut macht zu
Kreativität und Inspiration:
"Wenn die Kirche in so
zentralen Fragen wie der Gewissensfreiheit, den Menschenrechten und
der theologischen Einschätzung der Juden ihre Position radikal
ändern beziehungsweise reformieren konnte, dann kann sie es -
zumindest theoretisch - auch in anderen Bereichen. Reformen müssen
sich dabei nicht zwangsläufig an dem orientieren, was in der
Tradition überliefert ist. Und doch lohnt es sich, in der Geschichte
bereits einmal verwirklichte Ideen mit in den Blick zu nehmen."5
Auf! Most Gdanski, Warschau, 2015. |
1 H.
Wolf, Krypta. Unterdrückte Traditionen der Kirchengeschichte.
München 2015, 27.
2 Ebd.,
58.
3 Ebd.,
162.
4 Ebd.,
199.