Freitag, 27. November 2015

Schätze der Kirchengeschichte – Das Buch "Krypta" von Hubert Wolf

In vielen derzeit geführten Diskussionen drängt sich der Eindruck auf, dass wir nicht nur politisch und gesellschaftlich, sondern auch kirchlich vor gewaltigen Umbrüchen und in einer Art "Wendezeit" stehen. Für die gesellschaftliche Sphäre hat dies Klaus Mertes gerade in der Herder-Korrespondenz mit Blick auf die damit gegebenen Potenziale zu eigenen Kurskorrekturen analysiert.
Aber auch innerhalb der katholischen Kirche sind spätestens seit den Skandalen um Missbrauch, Kirchenfinanzen, Vatikanpolitik und angesichts der europäischen Glaubenskrise die Diskussionen neu geöffnet worden. Kurienreform, Familienethik, Vatikanfinanzen und eine Reihe weiterer Punkte stehen im Fokus.
Blick in den Sakramentsturm.
Abtei Königsmünster, Meschede, 2015.
Der Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf hat nun ein lesenswertes Buch vorgelegt, dass Anstöße aus der Geschichte der Kirche geben will, in welche Richtung sich Veränderungen bewegen können. Sein "Ziel ist es zu zeigen, wie sich die Kirche entwickelte, wie sie auf gesellschaftliche Herausforderungen reagierte und sich veränderte. Dadurch werden neue alte Möglichkeiten in Erinnerung gerufen, was dazu beitragen kann, die heutigen Reformdiskussionen auf der Basis der ganzen Breite der kirchlichen Tradition zu führen."1
Dafür stellt er eine Reihe in der Kirchengeschichte auftauchender Exempel vor und begrüßt damit ausdrücklich die Linie des Pontifikates von Papst Franziskus, das auch inner- und außerhalb der Kirche viele Menschen inspiriert. Insgesamt sind es fat durchweg kirchenpolitische und -rechtliche Fragen, wie die Bischofswahl oder -ernennung, die Rolle von Frauen mit kirchenamtlichen Vollmachten, die Stellung des Papstes und der kirchlichen Zentralgewalt gegenüber den Gemeinden und Ortskirchen oder die Rolle von Laien. Gerade die deutsche Kirchengeschichte bietet ihm ein reiches Reservoir an Beispielen, von Bischofswahlrechten über deutschen Vereinskatholizismus bis zu den Rechten des Domkapitels gegenüber seinem Bischof.

Mit einem Grundwissen an Kirchengeschichte, wie es mir zu eigen ist, hat man zwar vieles schon einmal gehört, bekommt hier aber in einem guten Überblick noch einmal eine Reihe interessanter Themen stilistisch und theologisch klar aufbereitet vorgestellt. Für Nichttheologen ist es ein geradeaus formulierter, aber nicht unterkomplexer Einstieg in einige Spezialthemen der Kirchengeschichte bis ins späte 20. Jahrhundert hinein. Durch mannigfache Beispiele zeigt er die Aktualität wie zum Beispiel die Möglichkeit von kirchlichen Leitung durch Frauen, wenn keine sakramentalen Kompetenzen nötig sind.

Lüftung, alt und neu. Jena-Zwätzen, 2015.
An vielen Stellen nimmt Wolf gerade das Zweite Vatikanum und die darauf folgenden Jahrzehnte mit den unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen der Pontifikate auf und bewertet die Impulse des Konzils ebenso detaillert wie die oft eingrenzenden, bisweilen auch weiterführenden Maßnahmen des römischen Lehramtes. 
Deutlich macht er dabei immer wieder, dass das Zweite Vatikanum kein Allheilmittel, aber auch kein Zerstörungsbeschleuiger im kirchlichen Leben darstellt, sondern dass es in einer langen Reihe unterschiedlicher Akzente und Reformbestrebungen steht, und in seinen verschiedenen Auswirkungen durchaus unterschiedlich bewertet werden kann. Beispielsweise hat es zwar die Rolle des Diözesanbischofs gegenüber dem päpstlichen Primates aufgewertet, dies aber "führte – absichtlich oder unabsichtlich – zu einer Abwertung aller anderen Glieder der Kirche, denn nach dem derzeit geltenden Kirchenrecht kann der Papst nur noch Männer zu Kardinälen ernennen, die zumindest bereits die Priesterweihe empfangen haben".2

Deutlich grenzt Wolf sich außerdem ab gegen restaurative Tendenzen und unhistorische Deutungen des Tridentinums. Was dieses Konzil tatsächlich wollte und was seit dem 19. Jahrhundert daraus gemacht wurde, entlarvt er als Mythen eines "'erfundenen' Tridentinums".3 Weder das tridentinische Seminar, noch das Bischofsideal oder gar die tridentinische Messe halten einer Verklärung stand, die historische Entwicklungsstufenen als überhistorische Ideale festschreiben will. Dagegen zeigen sich die Traditionen der Kirche "- wenn man sich ihnen ohne ideologische Scheuklappen und enge dogmatische Vorannahmen nähert – als ungeheuer reichhaltig und pluriform. Sie gleichen einem breiten, mächtigen Strom, der sich im Lauf der Geschichte immer wieder ein neues Bett gesucht und sich jeder Begradigung und Kanalisierung entzogen hat. Der katholische Traditionsstrom war nie auf ein enges, unveränderliches Flussbett beschränkt, sondern floss immer wieder in neue Richtungen, änderte seine Geschwindigkeit und verästelte sich."4

Diese angstlose Weite, die sich aus der Beschäftigung mit verschiedensten Phänomenen aus der Geschichte des kirchlichen Lebens speist, tut dem Buch gut und zeigt, dass Hoffnung und Zuversicht innerkirchlich keine Illusionen sein müssen. Leider aber findet sich dabei keine Antwort auf die dingende Frage, wie der schwindenden Glaubenssubstanz in Mitteleuropa geholfen werden kann und was kirchengeschichtlichen Mut zum individuellen christlichen Selbstverständnis geben könnte – das steht auf einem anderen Blatt und verdient ein weiteres spannendes Buch.

Summarisch also ist dies ein äußerst spannendes Buch, das neue-alte Impulse setzen kann und Mut macht zu Kreativität und Inspiration:
"Wenn die Kirche in so zentralen Fragen wie der Gewissensfreiheit, den Menschenrechten und der theologischen Einschätzung der Juden ihre Position radikal ändern beziehungsweise reformieren konnte, dann kann sie es - zumindest theoretisch - auch in anderen Bereichen. Reformen müssen sich dabei nicht zwangsläufig an dem orientieren, was in der Tradition überliefert ist. Und doch lohnt es sich, in der Geschichte bereits einmal verwirklichte Ideen mit in den Blick zu nehmen."5

Auf! Most Gdanski, Warschau, 2015.


1   H. Wolf, Krypta. Unterdrückte Traditionen der Kirchengeschichte. München 2015, 27.

2   Ebd., 58.

3   Ebd., 162.

4   Ebd., 199.


5   Ebd., 26.