Montag, 9. November 2015

Martinstat statt Pferdefreude

Es gibt in Berlin eine ganz eigenartige Skulptur, die mit ihrem unpassenden Pathos einen schalen Nachgeschmack bei mir hinterlässt – aber zugleich eine Inspiration zum nahenden Gedenktag des Heiligen Martin darstellt.

Pferdestärke. Veryl Goodnight, The Day The Wall Came Down.
Dahlem, Berlin, 2014.
Die nebenstehend abgebildete Skulptur befindet sich nahe des US-Konsulats in der Clayallee und der Berliner Mauer, springen und rennen. Der Titel "The Day The Wall Came Down" macht klar, worum es der amerikanischen Bildhauerin Veryl Goodnight geht. Nachdem sie am 9. November 1989 die Fernsehbilder aus der DDR sah, erschien ihr eine ihrer kurz zuvor gefertigten Pferdeskulpturen passend dazu: "That night, she had a dream that her sculpted horses, representing these people, were galloping through the rubble of the fallen Berlin Wall. Her sculpture, "The Day The Wall Came Down," captures that moment of joy when the Berlin Wall could no longer contain the will of the people."1
besteht aus fünf Pferden, die in wildem Galopp durch die Trümmer einer Mauer,

Mir scheint das eine absurde Bildsprache für dieses Ereignis zu sein. Ostdeutsche Demonstranten in ungezähmter Pferdefreude? Die DDR-Bürger als wilde Herde herumgaloppierender Pferde bringen die Mauer zum Einstürzen und grasen freudig erregt in Westberlin? Das passt nicht!

Genauso hat die heute geläufige Rede von einer „Flüchtlingsflut“ eine naturhaft abwertende Konnotation und verrät sich dadurch selbst als unmenschlich. Zwar bringen die Flüchtlinge tatsächlich Europas Mauern zum Einsturz, aber das Bild von urwüchsigen Naturgewalten trifft angesichts der vielen individuellen Einzelschicksale eben nicht.

Dagegen der Mann auf dem Pferd: Der Legende nach hat der römische Soldat Martin, der als Martin von Tours bekannt geworden ist, trotz des Lachens seiner Kameraden und des eigenen karg bemessenen Besitzes einem Bettler mit dem Schwert den Mantel vom Pferd herab geteilt.

Die Freude dessen, der mit dem halben Soldatenmantel bekleidet wird, hätte ich gern gesehen. Auch ist das Verantwortungsbewusstsein des Soldaten (im Gegensatz zur Beachtung seiner Dienstpflichten) bemerkenswert, um so mehr, da er sich in besetztem Land befand und Besatzer normalerweise nicht zimperlich umgehen mit den Einwohnern des Landes. Ebenso bewundere ich das Verhalten vieler Helferinnen und Helfer, die heute Flüchtlingen zur Seite stehen, oder das Handeln solcher Staaten, die ihre moralische Pflicht erkennen und danach handeln.

Daselbst.
Vielleicht kann Martin darum Vor- und Sinnbild für Menschen heute sein. Ob das Pferd zwangsläufig dazu gehört oder, wie bisweilen angenommen wird, gar kein Pferd anwesend war, spielt dann keine Rolle, wohl aber der Völkergrenzen überschreitende und nicht in erster Linie aus religiöser Pietät, sondern aus Mitmenschlichkeit herrührende Impetus des Helfens und Teilens.
Denn Mitmenschlichkeit war es zunächst, da Martin noch gar nicht getauft war, als er seinen Mantel teilte und der Legende nach erst im Traum die christologische „Auflösung“ zu seinem Handeln bekam, als sich Jesus Christus selbst mit dem Bettler identifizierte.
Nicht Verpferdung des Menschen also, sondern Identifizierung Gottes mit ihnen.

So ließe sich über einen Bogen der Heilige Martin durchaus als eigentliche Sinnspitze der pathetischen Skulptur verstehen. Man lese also in den weiteren Ausführungen über die Skulptur ohne zu Zögern „Martin“ statt „horses“: „By using horses, Veryl has transcended ethnic, political, cultural and religious diversity among peoples. The horses simply represent humanity and the sculpture represents a victory of the human spirit.