Es gibt in Berlin eine
ganz eigenartige Skulptur, die mit ihrem unpassenden Pathos einen
schalen Nachgeschmack bei mir hinterlässt – aber zugleich eine
Inspiration zum nahenden Gedenktag des Heiligen Martin darstellt.
Pferdestärke. Veryl Goodnight, The Day The Wall Came Down. Dahlem, Berlin, 2014. |
Die nebenstehend
abgebildete Skulptur befindet sich nahe des US-Konsulats in der
Clayallee und der
Berliner Mauer, springen und rennen. Der Titel "The
Day The Wall Came Down" macht klar, worum es der
amerikanischen Bildhauerin Veryl Goodnight geht. Nachdem sie am 9.
November 1989 die Fernsehbilder aus der DDR sah, erschien ihr eine
ihrer kurz zuvor gefertigten Pferdeskulpturen passend dazu: "That
night, she had a dream that her sculpted horses, representing these
people, were galloping through the rubble of the fallen Berlin Wall.
Her sculpture, "The Day The Wall Came Down," captures that
moment of joy when the Berlin Wall could no longer contain the will
of the people."1
besteht aus fünf Pferden, die in wildem Galopp durch
die Trümmer einer Mauer,
Mir scheint das eine
absurde Bildsprache für dieses Ereignis zu sein. Ostdeutsche
Demonstranten in ungezähmter Pferdefreude? Die DDR-Bürger als wilde
Herde herumgaloppierender Pferde bringen die Mauer zum Einstürzen
und grasen freudig erregt in Westberlin? Das passt nicht!
Genauso hat die heute
geläufige Rede von einer „Flüchtlingsflut“ eine naturhaft
abwertende Konnotation und verrät sich dadurch selbst als
unmenschlich. Zwar bringen die Flüchtlinge tatsächlich Europas
Mauern zum Einsturz, aber das Bild von urwüchsigen Naturgewalten
trifft angesichts der vielen individuellen Einzelschicksale eben
nicht.
Dagegen der Mann auf
dem Pferd: Der Legende nach hat der römische Soldat Martin, der als
Martin von Tours bekannt geworden ist, trotz des Lachens seiner
Kameraden und des eigenen karg bemessenen Besitzes einem Bettler mit
dem Schwert den Mantel vom Pferd herab geteilt.
Die Freude dessen, der mit
dem halben Soldatenmantel bekleidet wird, hätte ich gern gesehen.
Auch ist das Verantwortungsbewusstsein des Soldaten (im Gegensatz zur
Beachtung seiner Dienstpflichten) bemerkenswert, um so mehr, da er
sich in besetztem Land befand und Besatzer normalerweise nicht
zimperlich umgehen mit den Einwohnern des Landes. Ebenso bewundere ich das
Verhalten vieler Helferinnen und Helfer, die heute
Flüchtlingen zur Seite stehen, oder das Handeln solcher Staaten, die
ihre moralische Pflicht erkennen und danach handeln.
Daselbst. |
Vielleicht kann Martin
darum Vor- und Sinnbild für Menschen heute sein. Ob das Pferd
zwangsläufig dazu gehört oder, wie bisweilen angenommen wird, gar
kein Pferd anwesend war, spielt dann keine Rolle, wohl aber der
Völkergrenzen überschreitende und nicht in erster Linie aus
religiöser Pietät, sondern aus Mitmenschlichkeit herrührende
Impetus des Helfens und Teilens.
Denn Mitmenschlichkeit war
es zunächst, da Martin noch gar nicht getauft war, als er seinen
Mantel teilte und der Legende nach erst im Traum die
christologische „Auflösung“ zu seinem Handeln bekam, als sich
Jesus Christus selbst mit dem Bettler identifizierte.
Nicht Verpferdung des Menschen also, sondern Identifizierung Gottes mit ihnen.
So ließe sich über einen Bogen der Heilige Martin
durchaus als eigentliche Sinnspitze der pathetischen Skulptur
verstehen. Man lese also in den weiteren Ausführungen über die
Skulptur ohne zu Zögern „Martin“ statt „horses“: „By
using horses, Veryl has transcended ethnic, political, cultural and
religious diversity among peoples. The horses simply represent
humanity and the sculpture represents a victory of the human spirit.“