Samstag, 19. Mai 2018

So viele Sprachen! So viele Deutungen! Und Pfingsten heißt: Love is the way.

Auch wenn Menschen innerhalb verschlossener Räume und hinter Mauern leben, wirkt der Geist Gottes!
Das ist für mich die erste wirklich gute Botschaft der Geschichten, die eben vorgelesen wurden (vgl. Apg 2,1-11; Joh 20,19-23). 
Denn es bedeutet, dass der Heilige Geist, dessen Ausgießung wir heute feiern, Sie auch innerhalb der Gefängnismauern problemlos erreichen kann. Gott will Ihnen nahe sein im Heiligen Geist – auch in dieser Zeit der Unfreiheit!
Soweit klingt das ziemlich gut, wie ich finde. Aber was bedeutet es konkret für unser Leben?

Dazu drei Gedanken.

Wie kommt der Geist denn nun?
Möwe in Binz auf Rügen, 2016.
1
Zuerst eine Klarstellung: Wir haben es mit zwei unterschiedlichen Darstellungen zu tun, wie der Geist zu den Jüngern kommt. Einmal die ängstliche Gruppe, die sich versteckt und zu denen der Auferstandene trotzdem kommt und ihnen durch seinen Atem seinen Geist gibt, indem er sie anhaucht. Und einmal kommt der Geist, ohne dass Jesus erscheint. Die Jünger haben sich versammelt, dann kommt der Geist und bringt sie zum Sprechen. Sie waren plötzlich, könnte man sagen, Feuer und Flamme für das, was sie da bewegte.
Es ist im Grunde nicht wichtig, ob der Geist nun auf die eine oder die andere Weise zu den Menschen kommt, auch wenn jede der beiden Geschichten wichtige Akzente setzt. Wichtig ist, dass er kommt. Und dass er (jedenfalls in diesen Geschichten) zu einer Gemeinschaft von Leuten kommt.

Besonders spannend daran ist, was danach mit dieser Gemeinschaft geschieht. Plötzlich wird nämlich das, was sie sagen, für alle verständlich. Wir haben ja gehört, dass Juden aus den verschiedenen Gegenden der damals bekannten Welt vor Ort waren: Pamphylien, Phrygien, Mesopotamien, Ägypten usw.
Und nun verstehen alle auf einmal. Ein Sprachwunder, sagen manche. Das mag sein und man kann sich darüber trefflich streiten, was genau damals passierte, aber das ist nicht mein Punkt.

Was ich jetzt betonen will, ist, dass es zu einer doppelten Akzentsetzung kommt. Einerseits werden alle zu einer Gemeinschaft, weil alle dieselbe Botschaft hören. Andererseits aber bleibt dabei jedem seine eigene Sprache – es wird also eine Sprachcollage, nicht ein Einheitsbrei.
So wie wir es beim Chor gerade gehört habe: Männerstimmen und Frauenstimmen, hohe und tiefe Stimmen – alle Stimmen werden verschieden geführt und wirken zusammen, damit ein Hörgenuss herauskommt.
Das ist es, was die christlichen Kirchen bis heute ausmacht, dass sie imstande sind, ganz unterschiedliche Sprachen zu sprechen und doch alle in gewissem Sinne eins sind in ihrem Glauben. Keine Sprache, keine Glaubensweise wird untergebuttert – und trotzdem kommen alle irgendwie zusammen. Im Heiligen Geist wird es möglich, "in der Einheit des gemeinsamen Glaubens zugleich die differenzierte Vielfalt der persönlichen Glaubensweisen zu ermöglichen und zu wahren."1

Das bedeutet, dass wir „Sprache“ hier verschieden übersetzen müssen: Für manche bedeutet es, dass sie durch schöne Musik zum Glauben angeregt werden. Andere brauchen ein Wort aus der Schrift. Wieder andere wollen in der Stille meditieren. Und manche sollen sich sogar an einer Predigt freuen.
Jeder wird durch etwas anderes angesprochen, aber alle können dadurch durch den einen Geist zu Gott finden.

Pfingsten bedeutet also zunächst, dass keiner in seiner Eigenart untergebuttert wird, sondern dass jede „Sprache“, jeder Zugang zu Gott wichtig ist. „Persönlichkeit und Gemeinschaft wachsen mit- und durcheinander“,2 hat der bekannte Theologe Hans Urs von Balthasar das auf den Punkt gebracht.
Ausgießung des Heiligen Geistes heißt dann: Finden Sie in diesem Geist Ihre persönliche Sprache, in der Gott Sie anspricht und in der Sie mit Gott kommunizieren können.

2
Leider wurden in der Lesung aus der Apostelgeschichte die besten Verse weggelassen! Denn die Leute aus den verschiedenen Erdteilen wundern sich nicht nur darüber, dass sie alles verstehen können, sondern einige vermuten, dass die Jünger vom Wein berauscht sind. Die Jünger müssen etwas überdreht gewirkt haben. Das bedeutet, es scheint gar nicht so eindeutig gewesen zu sein, was da passierte.

Eindeutiges Zeichen?
Lessinghöhe, Neukölln, Berlin, 2016.
Ähnlich ist es bei Jesus im Evangelium: Bevor er seine Jünger anhaucht, zeigt er ihnen seine Wunden. Denn sie zweifeln, ob er es wirklich ist. Also gibt er ihnen eine Art Beweis und zeigt seine Wunden.

Und dieses Problem der Unklarheit haben gläubige Menschen seit Jahrhunderten.
Immer gibt es den Zweifel, ob ER es tatsächlich ist. Wenn Menschen sich auf Gott und seinen Geist berufen, ist nie klar, ob sie es tun, weil tatsächlich Gott es ist, der sie antreibt oder ob sie es aus eigenem Gutdünken tun.
Bringt Gottes Geist Menschen dazu, in seinem Namen über andere herzufallen und sie zu töten, so wie es schon immer im Namen der Religionen getan wird? Ich glaube kaum.
Auch ich selbst muss mich zum Beispiel fragen, warum ich hier vorn stehe – nur, weil ich gerne rede und Anerkennung dafür möchte? Oder weil Gottes Geist mich antreibt, es zu tun? Wahrscheinlich ist es oftmals (ich hoffe jedenfalls, dass es auch in meinem Fall so ist!) eine Mischung aus meinen mehr oder weniger guten Motiven und dem Geist Gottes. Und das gilt sicher für die meisten Menschen.

Es ist nicht ganz eindeutig, es bleibt ein Moment der Unklarheit, so wie es in jeder Religion bis zu einem gewissen Grad unklar bleibt, ob da tatsächlich eine göttliche Macht im Spiel ist. Das sage ich auch als katholischer Theologe, dessen Religion manchmal besonders stark versucht, die Unklarheiten und den Zweifel durch Dogmen und Berufungen auf letzte Wahrheiten zu beseitigen.
Aber Religion beruht ja von ihrem Wesen her „auf dem Glauben an etwas, das über das rational Erkennbare hinausgeht, im Wortsinne es überschreitet bzw. transzendiert, den Glauben also an etwas, das größer und anders ist als wir. Und weil das so ist, ist es auch nicht restlos ausdeutbar. Wie sehr sich auch die klügsten Theologen und Religionsgelehrten bemühen, das Transzendente in Begriffe zu fassen, bleibt doch immer ein Rest an Vagheit, Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit“.3

Viele Leute weichen dieser Unklarheit lieber aus. Denn wenn etwas nicht eindeutig ist, sondern mehrere Deutungen zulässt, dann verursacht das Verunsicherung.
Manche Menschen meinen dann, dass es wohl nicht so wichtig sein wird, wenn es nicht klar und eindeutig ist. Für weite Teile der deutschen Bevölkerung ist das mit Bezug auf das Christentum so. "Wenn das, was nicht eindeutig ist, nicht so wichtig ist, dann wird es eher gleichgültig."4 In dem Sinne meint man: Wenn Religion mir keine eindeutig beweisbaren und unzweifelhaften Inhalte präsentieren kann, dann beschäftige ich mich lieber gar nicht erst damit.
Aber, wie gesagt, das kann Religion nicht leisten und will es auch gar nicht.
Manche versuchen, der Uneindeutigkeit auf andere Weise auszuweichen und behaupten, dass doch alles eindeutig sei, beispielsweise präzise so, wie es in der Bibel steht.
Doch die heiligen Texte haben immer einen Bedeutungsspielraum, nicht zuletzt deswegen streitet man sich über Themen wie Homosexualität oder Wiederverheiratung oder den Papst und dergleichen. Sobald jemand behauptet, dass es bei diesen oder anderen Themen ja gar keine Frage gebe, weil doch alles eindeutig festgelegt sei, wird es fundamentalistisch.
Das sind also die beiden Weisen, wie man dem Problem der Mehrdeutigkeit ausweicht: Gleichgültigkeit oder Fundamentalismus.5

Aber der Heilige Geist fordert uns heraus: Es gibt eben Situationen der Mehrdeutigkeit, die wir aushalten müssen – sei es, wenn ich bete und hoffe, dass Gott mir ein Zeichen gibt; sei es ganz simpel, dass Ihre Freundin zweimal nicht zum angemeldeten Besuch kommt und Sie nicht wissen, was los ist; sei es, dass ein Gutachten über Sie erstellt wird und nicht ganz klar ist, wie das Gericht das dann bewerten wird und so weiter.
Manchmal brauchen wir sehr viel Geduld und Vertrauen, um mit der Vieldeutigkeit und Unklarheit des Lebens zurecht zu kommen. Und wir müssen versuchen zu unterscheiden: was ist langfristig gut für mich – und was nicht; was hilft mir, unbeschadet durch die Haft zu kommen – und was nicht; was ist eine Eingebung vom Heiligen Geist – und was nicht. 

Ekstase im Waschbecken.
Berlin, 2018.
Pfingsten heißt also als nächstes, dass wir die Unklarheit aushalten müssen, ob es tatsächlich Gott und sein Geist ist, der in uns wirkt. Und dass wir dauerhaft unterscheiden und auf der Suche bleiben müssen, wo es sich wirklich um Gott handelt und wo nicht.

3
Und noch ein Drittes möchte ich betonen.
Die Jünger hatten sich versteckt, Jesus war gestorben und damit nicht mehr einfach da bei ihnen. Manche resignierten, andere waren sicher enttäuscht und hoffnungslos. So wie auch hier in Haft manch einer den Eindruck hat, dass alles vorbei ist.
Die Jünger hatten in dieser Situation dieses gemeinsame Erlebnis, von dem wir hörten: Sturm im Haus, Feuerzungen, Ekstase, alles wird plötzlich verständlich, allen wollen sie es weitersagen.

Und auch das ist eine Botschaft von Pfingsten: Ein Neuanfang ist möglich! Dort wo gerade noch Frust und Verzweiflung herrschten, dorthinein kommt Gott und schenkt einen Neubeginn.
Das ist auch in der Haft möglich, wie gesagt kann der Geist Sie auch in dieser Zeit der Unfreiheit berühren! Und das wäre die wirkliche Resozialisation, die ja vom Gesetzgeber wohl angestrebt ist: dass Sie einen Neuanfang schaffen.

Aber es gibt auch andere Neuanfänge, außerhalb der Gefängnismauern:
Ich weiß nicht, ob Sie gestern die "Royal Wedding", die Hochzeit von Meghan Markle und Prinz Harry verfolgt haben, der festliche Neuanfang eines gemeinsamen Lebens. Mein Fall ist dieses royale Getue normalerweise nicht, aber ich habe in der Mittagspause ein bisschen zugeschaut und war vom Prediger des Hochzeitsgottesdienstes sehr beeindruckt. Es war der afroamerikanische Bischof Michael Curry, der vor allem von der Kraft der Liebe predigte.
Wenn man wirklich liebt, sagte er zum Beispiel, dann wird alles neu. Alles erscheint in einem anderen Licht. Ich denke, so muss es den Jüngern an Pfingsten gegangen sein. Wer den Heiligen Geist Gottes wirklich ins Herz geworfen bekommt, wird manchmal so von dieser Erfahrung überrollt, dass für ihn keine Zweideutigkeit mehr da ist. Auch das gibt es natürlich.
"We must discover the power of love", forderte Curry auf – und Pfingsten (ebenso wie eine Hochzeit ist genau so ein Augenblick, wo diese Macht der Liebe aufleuchten und entdeckt werden kann.

Es ist die Liebe Gottes zu den Menschen – und manchmal spiegelt sich in der Liebe von Menschen zueinander die Liebe Gottes wider. Wenn sie beieinander aushalten in guten und auch in bösen Tagen. Wenn sie einander auch nach dem Streit wieder die Hände reichen. Wenn sie verzeihen können. Immer dann ist der Geist Gottes am Werk.

Und das ist "power", das ist wirklich Kraft – zu vergeben, sich zu versöhnen, auszuhalten.
Aber die Jünger spürten an Pfingsten noch mehr. Sie spürten, dass sie hinausgehen und anderen davon erzählen mussten. Ich würde so formulieren: Es trieb sie die Liebe zu den Menschen, sie waren so erfüllt vom Geist Gottes, der die Liebe ist, dass sie die frohe Botschaft von Jesus weitertragen wollten. So nämlich geht es dann weiter in der Apostelgeschichte: Die Jünger predigen und sagen den Leuten, dass der Tod nicht das letzte Wort hat, dass Jesus auferstanden ist und dass Gott alle Sünden vergeben will. Aus Liebe!
Dazu müssen wir uns auf den Weg Gottes einlassen. Dieser Weg ist der Weg der Liebe! 

Auch dazu hat sich der Prediger gestern mitreißend geäußert: Was wäre alles möglich, wenn die Welt, wenn wir Menschen uns einlassen würden auf diesen Weg der Liebe?!
"Think and imagine a world where love is the way. ... Imagine this tired old world, when love is the way. When love is the way, then no child will go to bed hungry in this world ever again. When love is the way, we will let justice roll down like a mighty stream ... When love is the way, poverty will become history. When love is the way, the earth will be a sanctuary. When love is the way, we will lay down our swords and shields down by the riverside to study war no more."

Ich bin sicher: das hat die Jünger am Pfingsttag bewegt, dazu hat sie der Geist getrieben: Die Liebe Gottes als den Weg der Welt zu verkünden.
Und trotzdem ist die Welt so, wie sie nun einmal ist. Wir sind, wie wir sind.
Nicht umsonst befinden wir uns heute hier in einem Gefängnis.
Aber die Verheißung von Pfingsten gilt auch heute noch: Gott will uns mit seinem Geist der Liebe beschenken und einen Neuanfang ermöglichen.

Pfingsten heißt damit schließlich auch: Ein Neuanfang ist möglich. Und manchmal kann man nicht anders, als davon zu sprechen und die Liebe Gottes weitergeben!

Das also kann es heißen, wenn ich eingangs sagte: Der Geist wirkt auch hinter Mauern!
1. Wir können ganz unterschiedlich sein und bleiben – und trotzdem eine Gemeinschaft in Gott sein, trotzdem kann jeder ganz individuell Kontakt mit Gott aufnehmen.
2. Bleiben wir Gott auf der Spur! Suchen wir ihn, auch wenn es nicht immer klar ist, wo er zu finden ist – und lassen wir uns nicht auf Gleichgültigkeit oder Fundamentalismus ein, wir müssen die Unklarheit oft aushalten lernen!
3. Lassen wir uns den Geist der Liebe und seinen Neuanfang schenken. Und lernen wir, davon zu sprechen!

That is the way!
Comenius-Garten, Neukölln, Berlin, 2018.

1   M. Kehl, Die Kirche. Eine katholische Ekklesiologie. 3. Aufl. Würzburg 1994, 75.
2   H.U.v. Balthasar, Leben aus dem Tod. Betrachtungen zum Ostermysterium. Freiburg i.Br. 1984, 58.
3   T. Bauer, Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. 2., durchgesehene Aufl. Ditzingen 2018, 34.
4   Ebd., 38.
5   Vgl.zum Ganzen ebd., 31-40.