Ich bin nah dran an der Situation, die
sich Erik Flügge in seinem neuen Buch wünscht.
Mit „Eine Kirche für viele statt heiligem Rest“ hat der Politikberater und Autor, der auch schon über die Probleme kirchlichen Sprechens publiziert hat, nun eine Art fundamentaler Strukturkritik vorgelegt. Es ist wieder ein Buch herausgekommen, das vor Pauschalisierungen und harten Worten nicht zurückschreckt.
Leichtgewicht oder Überflieger? Berlin, 2018. |
Kurz gesagt geht es ihm darum, dass
möglichst viele Kirchenmitglieder mit der Kirche, der sie angehören,
in Kontakt kommen. Derzeit würden aber, so schreibt er, Angebote für
den Kern von 10 Prozent gemacht, der Rest zahle zwar Kirchensteuer,
würde aber nie etwas von der Kirche sehen. Nötig seien deshalb
statt Gebäuden und Strukturen in erster Linie face-to-face-Kontakte,
konkret schlägt er Besuche von Hauptamtlichen und engagierten
Ehrenamtlichen bei den inaktiven Christen vor. Ziel ist eine "Kirche
für alle", die nicht auf ihren Immobilien hockt und
jammernd wartet, wer noch kommt, sondern sich selbst in Bewegung
bringt und zur "aufsuchenden Kirche" wird.1
Ich gehe im Gefängnis einer äußerst privilegierten Tätigkeit nach, wie ich hier schon mehrfach geschrieben habe. Der Großteil meiner Arbeit besteht in der Tätigkeit, die Flügge anpreist: Seelsorgsgespräche. Ich werde angefragt und suche auf, ich unterhalte mich auf den Gängen und komme ganz nebenbei in gute Gespräche, ich treffe jemanden bei der Arbeit und unterhalte mich dort kurz oder lang, ich lade auf einen Kaffee in mein Büro und spreche mit den Gästen, ich besuche einen Kranken im Haftkrankenhaus und mache einen Gesprächstermin mit seinem Bettnachbarn aus.
Anders gesagt: Meine Seelsorgsarbeit
ist in der Regel Gesprächsseelsorge. Einzelseelsorge.
Kontaktaufnahme mit denen, die oft fern der Kirche sind und nun einen
Anlass haben, sich mit mir zu unterhalten.
Darum muss ich Erik Flügge zustimmen,
wenn er die Seelsorge an den Einzelnen, an den Fernen, an denen, die
sonst nicht im Kontakt mit der Kirche stehen, zur zentralen Aufgabe
der Kirche macht. Ich erlebe genau das nicht nur als sehr erfüllend,
sondern auch als sehr lehrreich (wenn auch im Gefängnis in einem
Kontext der Unfreiheit, der meinem Klientel nur wenig andere
Möglichkeiten lässt). Sympathisch ist besonders seine spirituelle
Pointe, dass die Aufsuchenden durch ihre Begegnung selbst Gott im
Gespräch neu entdecken können.
Allerdings habe ich mich bei der Lektüre dieses Buches oft gefragt, welches Bild von Kirche in diesen Gedanken steckt.
Allerdings habe ich mich bei der Lektüre dieses Buches oft gefragt, welches Bild von Kirche in diesen Gedanken steckt.
Kritisiert wird die Vielfalt
kirchlicher Arbeit und das damit verbundene Problem, dass das Geld
der Kirche zu einem großen Teil in Schulen, Orgeln, Gemeindehäusern,
Mentoring-Programmen, Diözesanmuseen etc. steckt.2
Würde dieses Geld stattdessen in pastorales Personal investiert,
dann könnten, so die Rechnung von Flügge, alle fernstehenden, aber
gleichwohl kirchensteuerzahlenden Menschen in den Gemeinden zu
Gesprächen besucht werden.
Die dahinterstehende Logik entspricht
deutscher Kirchensteuermentalität: Wer zahlt, muss auch etwas dafür
bekommen. Dieser Gedanke ist nicht leicht von der Hand zu weisen.
Gleichwohl entspricht er einer Versorgungsmentalität, die ich nicht
teile. Wenn ich in einem Verein Mitglied bin oder ein Konzertabo
habe, muss ich mich trotz des meinerseits investierten Geldes auch
hinbewegen, wenn ich in den Genuss der bezahlten Leistung kommen
will. Ob das Geschäft der Kirche dagegen vorrangig der Hausbesuch
ist, darüber kann und sollte man streiten.
Leere Kirche. Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, Ruine, Berlin, 2015. |
Meiner Meinung nach muss die Antwort
auf die Frage nach der "Aufgabenstellung" der Kirche in
eine andere Richtung weisen.
Im Zentrum der Ausführungen Flügges steht theologisch gesprochen das Konzept Einzelseelsorge durch Gespräche. Flügge nennt es "Kontaktarbeit"3 und verweist auf die Wichtigkeit persönlicher Beziehung in der Glaubensweitergabe und -stärkung.
Im Zentrum der Ausführungen Flügges steht theologisch gesprochen das Konzept Einzelseelsorge durch Gespräche. Flügge nennt es "Kontaktarbeit"3 und verweist auf die Wichtigkeit persönlicher Beziehung in der Glaubensweitergabe und -stärkung.
Wenn ich das lese, kann ich den
zugrundeliegenden Gedanken für viele Situationen, die ich persönlich
in meinem sehr speziellen Arbeitsfeld der Gefängnisseelsorge erlebt
habe, bejahen: Ja, Kontaktaufnahme seitens der Kirche ist (besonders
in Krisenzeiten) höchst willkommen und wird selten rundweg
abgelehnt. Zudem wäre man nah dran an der Praxis Jesu und würde sicher viele Fernstehende ansprechen können.
Je länger ich allerdings in diesem
Kontext arbeite, desto mehr wird mir klar, wie breit allein die
Palette kirchlicher Angebote (im konkreten Fall: meiner) im
Justizvollzug sein muss, um viele Menschen zu erreichen.
Drei Beispiele:
Viele derer, die ich im Gottesdienst
sehe, habe ich auch schon ein (kleines) Stück ihres Weges im
Gefängnisalltag begleitet. Andere aber habe ich außerhalb von
Gottesdiensten noch nie gesehen. Sie suchen kein Gespräch, sondern
wollen die Liturgie als Feier des Glaubens genießen.
Wieder andere suchen weder Gespräch
noch Gottesdienst, sondern sprechen mich an, damit ich ihnen einen
näheren Kontakt zu ihren Kindern ermögliche, indem sie eine
Extra-Besuchszeit in unseren gemütlicher eingerichteten
Räumlichkeiten der Seelsorge bekommen. Auch dann weiß ich, dass es
ein genuin kirchlicher Dienst ist, diese Bindungen zu stärken und
darum in dieser Weise unterstützend da zu sein.
Schließlich organisiere ich eine
polnischsprachige Gruppe, bei der wir neben dem Genuss von Kaffee und
Kuchen auch theologisch-religiöse oder existenzielle oder rechtliche
Fragen ansprechen. Wir pflegen Gemeinschaft, backen zusammen und
sprechen anfangs und am Ende ein Gebet. Kaum einer der Teilnehmer
sucht daneben noch ein Einzelgespräch und auch meine Einladungen zum
(deutschsprachigen) Gottesdienst werden regelmäßig dankend
abgelehnt.
Für mich bedeutet das, dass ich mit
meinen verschiedenartigen Angeboten verschiedene Zielgruppen erreiche
und dabei jeweils genuin kirchliche Aufgaben übernehme. Nichts davon
ist unwichtig und sollte leichtfertig zugunsten von Einzelgesprächen
über Bord geworfen werden.
(Im Kontext von Schulseelsorge habe ich
dies übrigens noch krasser erlebt. Der Bedarf an Einzelgesprächen
ist auch hier gegeben, aber viele Angebote brauchen doch eine
spielerische und eher gemeinschaftlich orientierte Durchführung.
Gespräch ist nicht der bevorzugte Modus dieser Art von Seelsorge.)
Pointiert zusammengefasst: Es braucht
eine Vielfalt kirchlicher Angebote für die Vielfalt von Menschen,
die in Gemeinden, Gefängnissen, Krankenhäusern, Schulen, Kasernen
etc. angesprochen werden sollen.
Darum möchte ich aus der Perspektive des Gefängnisseelsorgers differenziert zustimmen: Viele Beobachtungen Flügges sind richtig und vieles an kirchlichem Engagement gehört auf den Prüfstand. Manches davon muss sicher aufgegeben werden. Verteilungskämpfe wird es dabei immer geben.
Darum möchte ich aus der Perspektive des Gefängnisseelsorgers differenziert zustimmen: Viele Beobachtungen Flügges sind richtig und vieles an kirchlichem Engagement gehört auf den Prüfstand. Manches davon muss sicher aufgegeben werden. Verteilungskämpfe wird es dabei immer geben.
Aber Kirche braucht allein von ihrem
theologischen Auftrag her eine gewisse Bandbreite. Die Feier des
Glaubens, die Pflege der Gemeinschaft, die Werke der Barmherzigkeit,
die Glaubensweitergabe und dabei eben auch das Gespräch Aug in
Aug.
Die Stärke von Flügges Ausführungen ist ihr Provokationspotenzial. Seine Gedanken können nachdenklich stimmen, außerdem will der Autor mit seinen Thesen erklärtermaßen zuspitzen. Allerdings muss das Büchein auch berechtigten Widerspruch auslösen, einen grundlegenden Aspekt habe ich hier dargelegt.
Die Stärke von Flügges Ausführungen ist ihr Provokationspotenzial. Seine Gedanken können nachdenklich stimmen, außerdem will der Autor mit seinen Thesen erklärtermaßen zuspitzen. Allerdings muss das Büchein auch berechtigten Widerspruch auslösen, einen grundlegenden Aspekt habe ich hier dargelegt.
Trotz meiner Kritik halte ich aber
fest: ein lohnenswerter Einwurf, der die Auseinandersetzung wert ist
und einen Stachel im kirchlichen Getriebe einer reichen Kirche ohne
gläubiges Volk darstellen kann.
Platz für viele. Christuskirche, Rostock, 2015. |
1 E.
Flügge, D. Holte, Eine Kirche für viele statt heiligem Rest.
Freiburg i.Br. 2018, 60.61.
2 Vgl.
ebd., 21.
3 Ebd.,
59.