Mittwoch, 29. November 2017

Das Spektrum des Religiösen im Gefängnis

Seit gut einem Jahr bin ich als Gefängnisseelsorger in Berlin tätig und erkenne immer stärker das staunenswert breite Spektrum religiöser Praxis im Gefängnis.
  • Natürlich gibt es Männer, die das Gottesdienstangebot wahrnehmen – in unserem leidlich gestalteten Gottesdienstraum findet sich regelmäßig eine kleine Gruppe von Inhaftierten zum gemeinsamen Gebet, zu brummendem Gesang und zum Hören auf die Heilige Schrift und ihre Auslegung (durch mich) zusammen.
    Die Stimmung, die bei Musik und Bild und Wort entsteht, wird noch vertieft durch die intensiv genutzte Möglichkeit, eine Kerze im eigenen Anliegen zu entzünden. 

    Verrammeltes Tor zum Jugendarrest.
    Plötzensee, Berlin, 2017.
    Im seelsorglichen Einzelgespräch kommen verschiedene Elemente zum Tragen:
  • Zum Einen die Möglichkeit, das eigene Leben vor Gott anschauen zu können oder wenigstens auszudrücken, wo Heilung und Hilfe nötig ist und es in den religiös deutenden Blick des Seelsorgers zu halten. Dazu gehört auch, über die eigene Last weinen zu können und sich zu freuen angesichts des Schönen, das daneben manchmal untergeht. Und jemanden zu haben, der mitfühlt (vgl. Röm 12,15) und manchmal einen Weg Richtung Versöhnung mitgeht.
  • Zum Anderen steht im Gespräch oft die Frage nach dem Sinn – wie kann und soll ein Leben unter diesen Umständen einen Sinn haben? Und wo steht Gott in dieser Frage – ist er der Schuldige oder der Leidtragende, wenn der Sinn eines gelingenden Lebens dergestalt entstellt wird? Diese Fragen stellen sich viele Inhaftierte, zumal dann, wenn das Strafmaß oder die Entfernung von der verurteilten Straftat irritierend sind.
  • Aber natürlich steht damit auch im Raum, welchen Anteil der Inhaftierte selbst daran hat. Das ist schließlich eine weitere Ebene des Religiösen, die sich im Gespräch zeigt – die Frage nach der Verantwortung für das eigene Leben. Sich selbst als Handlungsmächtiger im eigenen Leben zu sehen, steht oftmals in hartem Kontrast zur Erfahrung von Ohnmacht in der Haft selbst. Für die erstere Erfahrung braucht es den Aufruf, sich der eigenen Schuld existenziell zu stellen, für die zweitere den Zuspruch, dass gerade dann, wenn der Staat in seiner Sphäre Schuld ahndet, der Inhaftierte weiterhin ein wertvoller und geliebter Mensch ist.
  • Element des Gesprächs ist in der Regel auch das (maßvolle!) gemeinsame Essen und Trinken; spätestens seit Jesu Mählern mit den Menschen, bei denen er zu Gast war, ein in vielfacher Hinsicht eminent religiös aufgeladenes Tun.

  • Darüber hinaus lade ich natürlich gern zur Praxis des persönlichen Gebets ein und bete im Anschluss an ein Gespräch auch mit dem Gesprächspartner und für ihn, so er das möchte. Inwieweit Gebet zur tatsächlichen Lebenspraxis gehört, bleibt mir natürlich nur sehr beschränkt einsehbar. Aber ich werde regelmäßig gefragt, ob ich Gebete auf litauisch, spanisch, polnisch etc. besorgen kann.

  • Die Vielsprachigkeit prägt auch eine weitere Ebene religiöser Praxis, nämlich die Bibellektüre. Besonders Inhaftierte nichtdeutscher Muttersprache kommen zuvorderst mit der Bitte nach einer Bibel in ihrer Sprache auf mich zu. An der deutschen Sprache Mächtige verteile ich bisweilen einzelne Bibelstellen oder empfehle ein biblisches Buch, manchmal ziehen Inhaftierte sich biblische Kurzzitate zur Anregung aus einer Schale in meinem Büro.
    Die intensive Auseinandersetzung mit dem Wort Gottes oder auch nur die bisweilen praktizierte Lektüre der Bibel ist meiner Meinung nach eine der ganz großen Möglichkeiten der Religionsausübung in Haft – denn selten nimmt sich jemand sonst die Zeit dafür, außerdem scheut, wer im Gebet ungeübt ist, dieses oft, aber das Lesen bedeutsamer Texte ermutigt manchmal auch die Selten-Leser.
    In dem Zusammenhang darf nicht unerwähnt bleiben, dass natürlich auch die Nachfrage nach dem Koran steigt und ich nicht die schlechtesten Gespräche religiösen Inhalts mit Muslimen habe.

    Hat das was mit Religion zu tun?
    Blaues Sofa, Neukölln, Berlin, 2017.
  • Damit bin ich bei dem, was gern von mir erbeten oder mitgenommen wird. Während Bibeln und biblische Sprüche eher der intellektuelle Zugang zur Religion sind, werden in viel größerem Maße greifbare Träger mit religiösem Gehalt erbeten. In geringem Maße sind dies in Haft Kreuze, über allem steht das Tragen von religiösem Schmuck, besonders gern des Rosenkranzes.
    Und er wird, dessen bin ich mir sehr klar, nicht in erster Linie zum Gebet im engeren Sinne genutzt. Andere Seelsorger sprechen von der eher magischen Funktion, die manche Inhaftierte ihm zumessen. Ich selbst würde es ganz weit formulieren und sagen, dass es vielleicht einfach eine Art "gutes Gefühl" gibt, wenn einer von sich weiß, dass er ein religiöses Symbol trägt. Ich trage auch ein Kreuz in der Tasche und freue mich regelmäßig daran – außerdem erinnert es mich an meine Zugehörigkeit zu Gott.
    Dazu kommt im Falle des Rosenkranzes, dass das quasi-bekenntnishafte sichtbare Tragen eines Rosenkranzes auch seitens eines Nichtchristen das Zeichen seiner Ehrlichkeit oder Menschlichkeit oder Rechtschaffenheit geben soll. Manchmal denke ich, dass jemand sich selbst und den anderen signalisieren will: "Ich gehöre nicht zu den ganz Bösen hier."
    Gerade beim Rosenkranz erkenne ich eine sehr große Spannbreite des Religiösen als eine wie auch immer geartete Kontaktaufnahme mit Gott.

  • Ähnliches gilt für religiöse Bilder. Abbildungen von Jesus und Maria als Raumschmuck oder für eine persönliche Gebetsecke oder auch nur zur Markierung der eigenen Gesinnung sind sehr beliebt. Das Anschauen und Angeschautwerden als religiöse Kontaktaufnahme ist für mich ein sehr einfacher und unverstellter Weg zu Gebet und Nähe zu Gott. 

  • Wichtiger Bestandteil des Religiösen im Gefängnis ist die Diakonie. Oft werde ich angeschrieben mit der Bitte um Tabak und Kaffee. Der Widerstreit in mir ist ein eigenes Thema – aber in jedem Fall gehört das großzügige Spenden (natürlich nicht aus meiner eigenen Tasche, sondern aus dem Budget...) zu einer meiner liebsten Beschäftigungen im Gefängnis. Wäre der Tabak als hauptsächlich nachgefragter Träger großzügigen Handelns nur kein Suchtmittel...
    Aber regelmäßig wird mir auch berichtet, dass der von mir ausgegebene und der eigene Tabak (und Kaffee) geteilt wird. Das soll vom Teilenden natürlich sagen, dass er religiös handelt – und die gleiche Erwartung nun an mich als Vertreter der Kirche hat.
    Nichtsdestotrotz freue ich mich über solche Berichte natürlich von Herzen.

  • Kerzen als religiöse Bezugsgegenstände werden in meiner Anstalt nur in der Weihnachtszeit geduldet, fallen als religiöses Lichtymbol (auch im Advent!) also leider weitgehend aus.

  • Kleine Steinchen.
    Rostock, 2015.
    Angefragt werde ich bislang nur selten in einem Feld, das ein zentrales Element des christlichen Glaubens darstellt – die Förderung der Gerechtigkeit (vgl. Jes 1,16f u.ö.). Denn mein Mandat ist kein juristisches und meine Erfahrung reicht in den meisten Fällen nicht so weit, dass ich praktische Hilfe bei gefühlten oder tatsächlichen Ungerechtigkeiten leisten könnte. Für die Seelsorge ist das zwar inhaltlich ein Manko, strukturell aber eine große Erleichterung, dieses Feld nicht bearbeiten zu müssen und die Kämpfe gegen das System weitgehend anderen zu überlassen.

    Trotz dieser grundsätzlichen Aussage versuche ich im Kleinen doch, der Gerechtigkeit dort weiterzuhelfen, wo ich kann: Wenn beispielsweise jemand noch kein Geld auf seinem Haftkonto gebucht hat und trotzdem die Familie (oder ggf. den Anwalt) benachrichtigen möchte, kann er auch bei mir telefonieren. Oder ich hake nach, wenn die Kommunikation zwischen den verschiedenen Stellen nicht funktioniert oder versuche zu erinnern, wenn jemand droht in Vergessenheit zu geraten. Aber das sind nur Kieselsteinchen.

  • Ein weiteres Steinchen ist die Ermöglichung des Kontakts zur Familie in einem angenehmeren Rahmen als den unpersönlichen und großen Besucherräumen der Haftanstalt. Bei einem so genannten "Pfarrersprecher" kann ich aus seelsorglichen Gründen ermöglichen, dass jemand seine Angehörigen in einem von mir begleiteten Setting sehen kann. Gerade aus eigener Erfahrung (und nicht zuletzt im Blick auf das Ziel der Resozialisierung) halte ich die Unterstützung des famliären Kontaktes für äußerst sinnvoll. Und cristlicherseits wird die Förderung der familiären Bindungen gern betont. 

  • Einmal wöchentlich biete ich eine "Polnischsprachige Kirchengruppe" an. Neben einem kurzen (oder nach Bedarf längerem) Gespräch über ein religiöses Thema stehen der informelle Austausch und der gemeinsame Verzehr von Gebäck und Kaffee im Mittelpunkt. Diese Förderung wohltuender Gemeinschaft ist einerseits ein christliches, andererseits aber auch ein allgemeinmenschliches Anliegen.
    Vielen Teilnehmern steht auch nicht der Sinn nach meinem (deutschsprachigen!) Gottesdienstangebot, zu dem ich regelmäßig einlade, sondern die Teilnahme an der Gruppe reicht. Das finde ich zum Teil bedauerlich, aber so bediene ich eben einen kleinen Teil des Spektrums und hoffe, dass an anderer Stelle auch andere Elemente des Religiösen auftauchen.

Zusammenfassend betrachtet ist das Spektrum des Religiösen außerordentlich weit (und der Post länger als anfangs gedacht). Konkrete christliche Bausteine sind ebenso dabei wie einfach nur die unklare Gottessuche und eine diffuse Sehnsucht nach etwas mehr als dem Haftalltag.
Ein reicher Schatz des Religiösen, dieses Gefängnis!

Religion pur!
Michael-Kirche der Christengemeinschaft, Bremen, 2015.