Die Frage, die ich mir bei meiner neuen
Tätigkeit als Gefängnisseelsorger am häufigsten stelle, ist
tatsächlich die: Wer bin ich für diese Leute, für die ich hier
bin, die ich besuche, die mit mir sprechen wollen, mit denen ich
versuche, dienstlich zu kooperieren, die mir einen Antrag schreiben
oder mich einfach so anquatschen, die mich hinein und wieder hinaus
lassen, die mich von ferne sehen, die, auf deren Hilfe und Zuarbeit
ich angewiesen bin...
Oder, um es mit Jesus zu sagen: "Für
wen halten mich die Leute?" (Mk 8,27)
Da liegt auch schon die erste Antwort,
die sich von der Person Jesu und den an ihn gestellten Erwartungen
absetzt – für einen Heilsbringer scheinen mich die wenigsten zu
halten. Allerdings halten auch die wenigsten derer, mit denen ich
spreche, Jesus für einen solchen...
Was ist das für uns? Kirche St. Canisius, Charlottenburg, 2014. |
Die schönsten bisherigen Begegnungen
waren die, die am ehesten erwartbar sind: Wer einsam ist oder wer
gravierende familiäre Umbrüche hilflos im Gefängnis sitzend
miterleben muss, der braucht bisweilen einfach jemanden zum Reden.
Einen, dem man vertrauen kann und der beim Hören vielleicht auch die
eine oder andere Blickrichtung öffnen kann. Einen, der tröstet und
der ein Gebet für einen sprechen kann.
Für einen solchen bin ich Hörender
und Tröstender, Ratgeber und Betender. Das gefällt mir, wenn es
auch nicht immer einfach ist. Hier scheint mir auch eine echte Not zu
stecken.
Die häufigsten Begegnungen dagegen
gehen in eine andere Richtung: Es herrschen im Gefängnis eine Reihe
materieller Bedürfnisse, die besonders hervortreten, wenn sonst
wenig Ablenkung geboten wird: so werden die alltäglichen Süchte
kleine Möglichkeiten, sich freier zu fühlen von alltäglichem Zwang
und Druck, von seelischer Not und Angst.
Ein Lieferant von Kaffee, Tabak und
Zucker, das scheine ich für diese große Gruppe zu sein. Da beginnt
ein Gespräch mit: "Ich habe eine Menge Probleme. Und ich würde
Sie gern um Tabak bitten." Natürlich freue ich mich, wenn ich
nicht lange hingehalten werde und jemand nicht der Meinung ist, mir
viel vorspielen zu müssen.
Aber bei allem Verständnis für den
Suchtdruck und die genannten Bedrängnisse sehe ich da nicht meine
Hauptaufgabe. Zumal sich auch nach einer Notversorgung in der Regel
keine tiefgehenden Gespräche über die kurz angedeuteten Probleme
ergeben. Das ist auch gar nicht nötig, schließlich ist jeder frei,
sich in diesen Dingen auszusprechen oder nicht.
Diese materielle Erwartungshaltung aber
ist ein wirklicher Zwiespalt für mich. Überspitzt ausgedrückt,
lautet die mich dabei bechäftigende Frage: Lasse ich Gottes Liebe
vielleicht auch durch eine Tabakspende aufleuchten – oder bediene
ich einfach nur die niederen Instinkte derer, die mein Wohlwollen
ausnutzen und ihre Süchte füttern?
Für manche bin ich einfach eine
willkommene Abwechslung, also einer, mit dem man nebenbei mal
plaudern kann und der vielleicht was springen lässt, ohne dass man
zu sehr betteln muss. Gute Laune bringe ich ja ebenso gern wie ein
aufmunterndes Lächeln mit. Auch da mag ja ein Zipfel des göttlichen
Glanzes für den einen oder anderen hervorschauen.
Wo ist nun Kirche? Marktkirche Unserer lieben Frauen von unten. Halle / Saale, 2016. |
Für manche Beamte wiederum bin ich ein
komischer Störenfried, der Arbeit macht. Nicht für alle, beileibe
nicht! Aber hier prägen jene mein subjektives Bild, die mir deutlich
machen wollen, dass ihnen nichts an mir liegt. Zugleich scheinen die
wenigsten etwas anfangen zu können mit meiner Arbeit. Auch hier:
müssen sie nicht, nur sollen die Inhaftierten eben die Möglichkeit
haben, ihre Religion frei auszuleben.
Und da stelle ich schon manchmal fest,
dass ich ein anderes Menschenbild mitbringe. Doch vielleicht liegt
das an meiner mangelnden Erfahrung. Schließlich habe ich nicht die
Vielen hinaus- und dann wieder hereinkommen sehen in langen
Dienstjahren. Und ich muss auch niemanden einschließen, der das
gerade nicht will oder Disziplinamaßnahmen ausführen oder für Ruhe
sorgen. Insofern habe ich schon eine dankbare Rolle.
Mein Respekt für die Beamten, die
jahrein und jahraus in guter Weise mit Inhaftierten umgehen. Die
machen es einem oftmals schließlich auch nicht leicht.
Und ein gotthöriger Störenfried in
einem System der Unfreiheit sein - das ist so weit von Jesus auch
nicht entfernt...
In einem Fall wurde ich schon als
Exorzist angefragt, eine Rolle, die mir abseits der mangelnden
Beauftragung und Befähigung auch gar nicht liegen würde.
Auch nach Gottesdienst und Beichten
fragen die Inhaftierten – und gern singe und bete ich in
Wortgottesdiensten mit einer feiernden Gemeinde.
Und natürlich bin ich der von der Kirche - vor allem als Nachfolger meiner Vorgänger und als Kollege der Seelsorger dort und dort und dort merke ich, dass ich in ein großes Netz von Kirche hineingehöre - aber auch, dass bei Einzelnen viel Erfahrung mit der Seelsorge in Gefängnissen vorliegt...
Angesichts all dieser Zuschreibungen
und Erwartungen, in denen ich auch meine an mich selbst gestellten
Ansprüche und Erwartungen gespiegelt finde, fällt natürlich auch
immer wieder die Frage auf mich zurück, wer denn dieses Gegenüber
für mich ist.
Und da stelle ich nun fest, dass mein
anspruchsvoll-hehrer Versuch, alle in jeweils ihrer Situation als
Gottes Ebenbilder, ja als seine geliebten Kinder anzusehen, mir doch
äußerst selten gelingt. Im unsteten Blick oder der rauen Gier oder
der klaren Abneigung oder der abschätzigen Geste den von Gott
geliebten und bedingungslos angenommenen Menschen zu sehen – puh,
das ist nicht leicht. Hier brauche ich viel Übung mit dem barmherzigen Blick!
Immerhin, da ich selbst versuche, mich
als Gotteskind dem jeweiligen Gegenüber zuzuwenden, kann ich wohl
nicht auf dem ganz falschen Weg sein. Und ich beginne ja gerade erst...
Schläuche: Ausgang aus dem Loch. Neukölln, 2014. |