Sonntag, 9. Oktober 2016

"Liturgie und Ritual im Wandel" – Drei Tagungseindrücke

In dieser Woche fand in Berlin eine Tagung statt, die eine "zeitgemäße Feier unseres Glaubens" in den Blick nehmen wollte. Dafür waren zwei wissenschaftliche Referenten und eine Reihe ExpertInnen aus der Praxis geladen, die einen Aufriss dessen gaben, was es an liturgischen Möglichkeiten und Wägbarkeiten gibt, wenn wir unseren Glauben feiern.
Drei Gedankengänge sind mir besonders hängen geblieben.

1
Neue Ausblicke. Feld bei Kleinbrembach, 2015.
Zunächst sprach Michael N. Ebertz, Soziologe und Theologe zu "Diesseitsritualen", worunter er vor symbolisch durchformte Routinen im mitmenschlichen Interagieren verstand, das als normiertes Handeln eine Art Vorfeld des Religiösen darstellt. Ein wichtiger Bestandteil dieser alltäglichen Rituale ist die Image-Sorge, also wer wie mit wem umgeht, was sich in definierten Haltungen, Begrüßungen, Blicken etc. ausdrückt. Mithilfe von Ritualen wird ein bestimmter Bereich, eine Sache oder eine Person herausgehoben oder abgegrenzt oder einbezogen – und durch das Eingehen auf rituelle Vollzüge, wie beispielsweise auf das Ergreifen der zum Handschlag angebotenen Hand, wird ausgedrückt, wie man zu jemandem steht.
Spannend fand ich daran, dass die zur Zeit von mancher Seite angefragte Liturgiefähigkeit heutiger Menschen damit grundsätzlich bejaht wird. Denn wenn Rituale sowieso zum Sozialverhalten von Menschen gehören und darin zugleich immer auch etwas (in gewisser Weise) heilig gehalten wird, dann ist nicht die Frage entscheidend, ob unsere kirchenfernen Zeitgenossen "liturgiefähig" sind, sondern ob christliche Liturgie ihnen etwas zu sagen hätte.
Das hängt sicher zum einen an den geglaubten und ausgedrückten Inhalten, aber auch an den Formen. Für wie sinnvoll erachten wir hergebrachte liturgische Formen und was sagen sie uns aus sich heraus? In der späteren Diskussion betonte Ebertz darum, dass wir als Kirche unsere überlieferten Zeichen in guter Weise auch zur Entfaltung bringen müssen, anstatt ganz auf sie zu verzichten oder uns neue, vermeintlich eingängigere auszudenken. Beispielhaft stand für ihn das verloren gegangene "An-die-Brust-Schlagen" zum Bußakt, das durchaus eine Chance der Wiederbelebung verdient hätte.

2
Der zweite Referent war Alexander Saberschinsky, Liturgiewissenschaftler in Wuppertal, der diese ersten eher soziologischen Ausführungen innertheologisch auf die Frage zuspitzte, ob in der liturgischen Feier die Liturgie selbst als Ausdruck des Glaubens oder aber die Bedürfnishaltungen der Menschen das Maß für liturgisches Feiern darstellen. Das bekannte Zitat von Carlo Maria Martini: "Die Kirche befriedigt nicht Erwartungen, sondern sie feiert Geheimnisse." scheint eindeutig den Maßgaben der Liturgie den Vorrang zu geben. Allerdings, betonte Saberschinsky, feiert sie diese Geheimnisse eben für die Menschen und mit den Menschen. Denn niemandem ist geholfen, wenn die Geheimnisse zwar gefeiert werden, aber niemand mehr hingeht, weil in der Feier keine Lebensrelevanz erkennbar wird.
Es gilt deshalb, die Spannung der verschiedenen Aspekte auszuhalten.
Warum aber, so stellte Saberschinsky weiterführend die Frage, muss denn immer nur die Hochform des allerhöchsten Geheimnisses gefeiert werden? Sollte Kirche nicht auch eine unterschiedlich große Nähe zu sich zulassen, so dass sie dem Bedarf heutiger Menschen gerecht werden und leichtere Zugangswege zum Glauben eröffnen kann, ohne dabei stets sofort ihre besten Perlen auszustreuen (zu müssen)? Wörtlich meinte Saberschinsky sehr treffend: "Ich kann die Menschen nicht zu ihrem eucharistischen Glück zwingen!" Und ich würde hinzufügen: wahrscheinlich ist das auch ganz gut so.
Denn es bietet sich gerade angesichts der abnehmenden Zahl von Priestern und den strukturellen Reformen der Kirche vor Ort die Chance, gottesdienstliche Vielfalt in kleineren Gruppen zu fördern. So könnten auch Menschen angesprochen werden, die nicht in der volkskirchlichen Tradition stehen und eher unter dem Primat der positiven persönlichen Beziehung Anschluss an Kirche suchen. Doch das würde ein nicht geringes Umdenken vornehmlich bei den Kirchenleitungen bedeuten.

3
Eine Form, in der so etwas tatsächlich schon geschieht, sind die Lebenswendefeiern. Sie werden für nicht kirchlich gebundene Jugendliche von der Kirche angeboten, um eine Alternative sowohl zur kirchlichen Hochform Firmung als auch zur Jugendweihe als säkularem Angebot zu schaffen.

Säkularer Tabernakel. Off-Church-Installation beim
Katholikentag in Leipzig, 2016.
In Berlin heißen diese Feiern "Wunsch- und Segensfeiern", die auf der Tagung von Bettina Birkner vorgestellt wurden. Ich hatte diesen Workshop gewählt, weil ich beides, Jugendweihe und Firmung, in diesem Jahr hautnah miterlebt habe und mich nun auch der kirchlichen "Kleinform" in der Theorie nähern konnte.
In der Hedwigskathedrale wird diese Feier für Jugendliche in der achten Klasse, und damit während einer Zeit noch relativ großer Bindung an das Elternhaus, angeboten. Dementsprechend sind es oft auch die Eltern, die die Initiative zur Anmeldung ergreifen. Zur Vorbereitung auf die Feier gehört für die Jugendlichen vornehmlich ein gemeinsam verbrachtes Wochenende, das zur Reflexion des eigenen bisherigen Lebens, aber auch zum Blick auf das vielleicht Kommende im eigenen Leben dient. Und die Mitgestaltung der Feier selbst wird in den Blick genommen.
Was mich besonders ansprach, und hier schließt sich mein Fokus an die beiden vorgenannten Punkte an, war die im Rahmen der Feier relativ breit aufgelegte Möglichkeit für die Jugendlichen und ihre Eltern, einander Dank und Wünsche zu sagen. Zeitlich ist rund ein Drittel der Feier für dieses öffentliche Zuwenden von Eltern und Kindern vorgesehen. Darin zeigt sich auch die Motivation, warum Kirche denn so etwas für Nichtchristen anbietet, was den versammelten Gästen vor der Feier noch kurz erläutert wird: weil wir glauben, dass jeder Mensch wichtig ist, von Gott geliebt und bejaht. Darum wird in dieser Feier jedem Platz und Raum gegeben.
Und die Eltern scheinen dies regelmäßig zu nutzen, diese ihre Liebe, die für Christen ein Abglanz der Liebe Gottes ist, ihren heranwachsenden Kindern gegenüber auszudrücken. Und andersrum ist die Haltung der Dankbarkeit, mit der die Jugendlichen ihren Eltern in der Feier begegnen, genauso eine quasi-religiöse Haltung, die im "Diesseitsritual" des Danken und Wünschens ihren Ausdruck findet. Hier schafft es Kirche also tatsächlich, Menschen ein liturgisches Angebot zu machen, das dem Bedarf vieler Menschen entspricht und in dem nicht Mission oder Mitgliedergenerierung im Vordergrund stehen, sondern in dem Beziehung aufleuchten darf.
(Sicher deckt die symbolische Verdichtung solch emotionaler Momente sich nicht immer zur Gänze mit der tatsächlichen Beziehungsqualität – aber wann ist das in kirchlich gefeierten Ritualen schon so?)
Wer diese im Danken und Wünschen strahlende Beziehung dann theologisch deuten kann und die Linien weiter auszieht zur Beziehung Gottes zu den Menschen, mag zwar zu Recht nicht das heilsbedeutsame Kreuzesgeschehen als wichtigsten expliziten Fokus der Feier entdecken, wohl aber eine Art Vorraum, in dem schon Gottes Liebe zu den Menschen liturgisch zu ahnen ist – in einer Feier, die das Volk Gottes, die Kirche, für Menschen organisiert, die sonst wohl keinen Kontakt zu ihm hätten.

Wohin führen die Treppen, die die Kirche anbietet? Alt-Treptow, Berlin, 2016.