"Man kann nicht erkennen, wer
die Leute sind, wenn man von der Landschaft absieht."1
Dies sei, so äußerte Yasmina Reza im Interview mit dem SPIEGEL, der
Satz, auf den sie in ihrem letzten Roman "Babylon"
besonders stolz ist.
Am 9. November lässt sich viel von der
Landschaft der Deutschen erkennen. Hier spiegelt sich die geistige
Umgebung, in der wichtige Momente deutscher Gemütslagen aufbewahrt
sind.
Einer dieser Momente ist der 9.
November 1938, als in der Reichspogromnacht die Läden vieler
jüdischer Unternehmer und Handwerker zerstört wurden, viele
Synagogen angezündet und verwüstet und viele jüdische Deutsche ins
KZ Sachsenhausen verschleppt wurden. Es war der symbolische Auftakt
der kommenden Greuel bis nach Auschwitz, an die wir heute mit Scham und Ekel denken.
Ein anderer Moment ist mit dem 9.
November 1989 die unverhofft-erhoffte Öffnung der Grenzen in Berlin
und der ganzen DDR, nachdem monatelang demonstriert, diskutiert und
gebetet wurde. Die Mauer war zum Einsturz gebracht worden, die
Freiheit war zum Greifen nah.
Feuchte Landschaft. Linum, 2016. |
Das ist die mentale Landschaft, in der
wir stehen. Ein grausamer Gewaltexzess und das unstillbare
Freiheitsverlangen geben dem Tag sein Gepräge.
Sicher, nicht jeder mag sich in dieser
Landschaft gern oder einfachhin wiederfinden. Aber sie prägt doch
vieles, was Deutsche heute ausmacht.
Die kritische deutsche
Selbstvergewisserung, die immer mit ein bisschen unpatriotischer
Nüchternheit einhergeht, hat hier ebenso ihr Zuhause wie der
Freiheitstraum so vieler Abenteuerlustiger. Und ja, wer weiß,
wahrscheinlich sind die beiden Momente des 9. November gar keine
exklusiv deutschen Landschaften, sondern die mehr oder minder
erinnerte Gewaltgeschichte und die mehr oder minder aktuelle
Freiheitsgeschichte in der DNA vieler Kulturen und Nationen.
Nur dass sie sich selten so prominent
an einem Tag die Hand reichen.
Vielleicht ist es dieses Überschneiden,
dieses unfreiwillige Zusammentreffen, das die deutsche Landschaft so
spannungsvoll erscheinen lässt.
Einer der Hauptakteure in Yasmina Rezas
Roman, es ist der durchaus sympathisch gezeichnete Mörder, hat, so
schreibt Reza auf der letzten Seite, "ein
Zugehörigkeitsgefühl zu einer schattenhaften Gemeinschaft
empfunden". In diesem Sinne scheint auch die Ich-Erzählerin
den letzten Satz des Romans zu sagen: "Ich schaute zum Himmel
auf und zu allen, die sich dort befanden."2
Lese ich diesen Satz im Kontext des 9.
November, so fühle ich diese Gemeinschaft mit den Lebenden und den
schon Verstorbenen, mit den Tätern der Gewalt und ihren Opfern, mit
den um Freiheit Kämpfenden und den in Unfreiheit Haltenden.
Alle gehören sie dazu, und ich auch.
Sie sind meine Landschaft, ich werde Teil der Landschaft für die
kommenden Generationen sein. Einer Landschaft hoffentlich, die mehr
und mehr vom Kampf für Freiheit und gegen Gewalt geprägt sein wird.
Karger Baum in der Landschaft. Kirschtal bei Weimar, 2016. |
1 Interview
mit Yasmina Reza, in: Der Spiegel 32 / 2017, 117.