Die Martinslegende kreist um die
Mildtätigkeit des römischen Soldaten, der später unfreiwillig zum
Bischof und schließlich zu einem der bekanntesten Heiligen der
Christenheit wird. Diese Legende hat viele Anknüpfungspunkte.
Mir sind in den letzten Tagen zwei
untergekommen.
Helfen oder Schauen? Schöneberg, Berlin, 2017. |
1
Beim morgendlichen Spaziergang mit dem
Kinderwagen sehe ich Anfang der Woche auf einem Platz im Kiez eine
ältere Frau in Shirt und Weste. Ich werde aufmerkam, zwar ist noch
kein eiskalter Winter, aber für ein Shirt dann doch zu kalt.
Außerdem kenne ich die Frau, da ich sie schon einmal verwirrt antraf
und wieder in ihre Pflegeeinrichtung begleitet habe – damals stand
die Telefonnummer noch auf ihrem Gipsarm, zusammen mit dem Hinweis,
dass sie desorientiert sei. Als ich sie jetzt (ohne Gipsarm) wieder
treffe, wundere ich mich, rufe aber noch einmal in der Einrichtung an
und mache mich mit ihr und dem Kinderwagen auf den Weg. Der
Kinderwagen ist wichtig, denn das ach so süße Kind ist der Frau
eine gute Motivation, mit mir zu gehen.
Da der Weg etwas weiter ist, gebe ich
ihr nach ein paar gemeinsamen Schritten meine Jacke. Mit einer
Fleecejacke darunter bin ich immer noch wärmer angezogen als die
alte Frau zuvor.
Als uns nach einiger Zeit eine
Pflegekraft entgegen kommt, muss ich erst einmal meine Empörung
oswerden, wie eine alte Frau ohne Orientierung allein aus ihrer
Einrichtung weglaufen kann. Nix zu machen, heißt es knapp, dann sind
die beiden auch schon weg und ich stehe einigermaßen verdutzt mit
meiner Jacke und dem langsam erwachenden Kind da.
Als ich die Frau am nächsten Tag,
diesmal mit meinen beiden Kindern im Schlepptau, zufällig wieder
sehe, dieses Mal in der Nähe des Pflegeheims, gehe ich in hinein und
verlange Aufklärung. Daraufhin wird mir erklärt, dass man nichts
tun und sie nicht gegen ihren Willen halten könne, meist bleibe sie
in der Nähe und sei sie einmal weg, fische eine Polizeistreife sie
schon wieder auf. Dort kenne man sie.
Das schockiert mich. Ich kenne die
Rechtslage in solchen Fällen nicht und weiß um den Notstand in der
Pflege, aber das kann ich mir schlecht als mögliche Lösung
vorstellen. Zumal ihre Kleidung eindeutig nicht der Witterung
entsprechend gewesen ist. Aber was kann ich tun...? Vor drohender
Unterkühlung kann ich sie jedenfalls nur retten, wenn ich gerade
nicht arbeite und sie zufällig treffe.
Ist das also die Moral von der
Geschichte – dass beherztes Helfen und ein christliches Herz für
die Orientierungslosen heute gar nicht gefragt sind, weil die sich
halt verirren gehen müssen?
2
Martin Kehlmann beschreibt in seinem
neuen Buch "Tyll" die Wirren den Dreißigjährigen Krieges
aus verschiedenen Perspektiven. Als sich durchziehende Figur ist in
allen Episoden an irgendeiner Stelle auch der bekannte Spaßmacher
und Narr Till Eulenspiegel (hier Tyll Ulenspiegel) dabei.
Gleich zu Beginn gibt es eine Art
inneren Monolog, in dem aufgezählt wird, wer von den christlichen
und vorchristlichen Helfern alles angerufen wird, um ein Ende des
Krieges und ein besseres Leben herbeizubringen.
"Wir beteten ... zum Bischof
Martin, der seinen Mantel mit dem Bettler geteilt hatte, als es
diesen fror, sodass sie danach beide froren und beide gottgefällig
waren, denn was nützt ein halber Mantel im Winter".1
Auch das kann die Moral der
Martinsgeschichte ja nicht sein, dass das eigentlich gute und
gottgefällige Werk im Leiden der Frommen besteht. Gleichwohl seziert
Kehlmann in seinen Romanen gern fromme Floskeln und
Gottesvorstellungen, den Glauben und Unglauben mit ihren Argumenten
(besonders in seinem Roman "F", aber immer wieder
auch in "Tyll").
Und natürlich muss heute klargestellt
werden, dass es nicht das (gesinnungsethische) Teilen an sich ist,
dass christlicherseits herausgestellt werden müsste, sondern die
langfristig hilfreiche (verantwortungsethische) Wirkung des Teilens.
Der andere Martin hat auch Hände. Schlosskirche zu Wittenberg, 2017. |
Leider nur gibt die fromme Tradition
eher Kehlmann als dem sozialwirksamen Denken der heutigen
caritasverwöhnten Christen recht, denn der anschließende Traum des
heiligen Martin deutet die Tat christologisch, denn er lässt
Christus selbst im zuvor geteilten Mantel auftreten und an Mt 25,40
gemahnend sagen, dass Martin mit seinem guten Werk ihm geholfen habe.
Ist die Moral also nun, dass nicht die
Linderung des Leidens der Bedürftigen im Vordergrund steht, sondern
die fromme Tat als solche, selbst wenn sie das Leid eher verdoppelt?
3
Auf beide Fragen muss man aus
christlicher Perspektive mit Nein antworten.
Ich denke, dass gerade gegen den
unaufhaltsamen Strom eines frustrierend systematischen "Immer-wieder"
mutig das "Trotzdem" gestellt werden muss. Selbst wenn ich
an den Strukturen nichts ändern kann, muss ich doch helfen, wo Not
ist.
Und natürlich entspricht die wirksame
Hilfe dem christlichen Auftrag eher als plan- und sinnloses Gehelfe.
Denn wo Hilfe dem bestehenden System in die Speichen fällt und neue
Strukturen schaffend als Notwende wirkt, ist sie wirklich
christliches Heilshandeln in der Welt.
1 M.
Kehlmann, Tyll. Reinbeck bei Hamburg 2017, 7.