Freitag, 10. November 2017

Halb bemäntelt – halb erfroren. Ein Erlebnis und ein Zitat zum Martinsfest

Die Martinslegende kreist um die Mildtätigkeit des römischen Soldaten, der später unfreiwillig zum Bischof und schließlich zu einem der bekanntesten Heiligen der Christenheit wird. Diese Legende hat viele Anknüpfungspunkte.
Mir sind in den letzten Tagen zwei untergekommen.

Helfen oder Schauen?
Schöneberg, Berlin, 2017.
1
Beim morgendlichen Spaziergang mit dem Kinderwagen sehe ich Anfang der Woche auf einem Platz im Kiez eine ältere Frau in Shirt und Weste. Ich werde aufmerkam, zwar ist noch kein eiskalter Winter, aber für ein Shirt dann doch zu kalt. Außerdem kenne ich die Frau, da ich sie schon einmal verwirrt antraf und wieder in ihre Pflegeeinrichtung begleitet habe – damals stand die Telefonnummer noch auf ihrem Gipsarm, zusammen mit dem Hinweis, dass sie desorientiert sei. Als ich sie jetzt (ohne Gipsarm) wieder treffe, wundere ich mich, rufe aber noch einmal in der Einrichtung an und mache mich mit ihr und dem Kinderwagen auf den Weg. Der Kinderwagen ist wichtig, denn das ach so süße Kind ist der Frau eine gute Motivation, mit mir zu gehen.
Da der Weg etwas weiter ist, gebe ich ihr nach ein paar gemeinsamen Schritten meine Jacke. Mit einer Fleecejacke darunter bin ich immer noch wärmer angezogen als die alte Frau zuvor.
Als uns nach einiger Zeit eine Pflegekraft entgegen kommt, muss ich erst einmal meine Empörung oswerden, wie eine alte Frau ohne Orientierung allein aus ihrer Einrichtung weglaufen kann. Nix zu machen, heißt es knapp, dann sind die beiden auch schon weg und ich stehe einigermaßen verdutzt mit meiner Jacke und dem langsam erwachenden Kind da.
Als ich die Frau am nächsten Tag, diesmal mit meinen beiden Kindern im Schlepptau, zufällig wieder sehe, dieses Mal in der Nähe des Pflegeheims, gehe ich in hinein und verlange Aufklärung. Daraufhin wird mir erklärt, dass man nichts tun und sie nicht gegen ihren Willen halten könne, meist bleibe sie in der Nähe und sei sie einmal weg, fische eine Polizeistreife sie schon wieder auf. Dort kenne man sie.
Das schockiert mich. Ich kenne die Rechtslage in solchen Fällen nicht und weiß um den Notstand in der Pflege, aber das kann ich mir schlecht als mögliche Lösung vorstellen. Zumal ihre Kleidung eindeutig nicht der Witterung entsprechend gewesen ist. Aber was kann ich tun...? Vor drohender Unterkühlung kann ich sie jedenfalls nur retten, wenn ich gerade nicht arbeite und sie zufällig treffe.

Ist das also die Moral von der Geschichte – dass beherztes Helfen und ein christliches Herz für die Orientierungslosen heute gar nicht gefragt sind, weil die sich halt verirren gehen müssen?

2
Martin Kehlmann beschreibt in seinem neuen Buch "Tyll" die Wirren den Dreißigjährigen Krieges aus verschiedenen Perspektiven. Als sich durchziehende Figur ist in allen Episoden an irgendeiner Stelle auch der bekannte Spaßmacher und Narr Till Eulenspiegel (hier Tyll Ulenspiegel) dabei.
Gleich zu Beginn gibt es eine Art inneren Monolog, in dem aufgezählt wird, wer von den christlichen und vorchristlichen Helfern alles angerufen wird, um ein Ende des Krieges und ein besseres Leben herbeizubringen.
"Wir beteten ... zum Bischof Martin, der seinen Mantel mit dem Bettler geteilt hatte, als es diesen fror, sodass sie danach beide froren und beide gottgefällig waren, denn was nützt ein halber Mantel im Winter".1
Auch das kann die Moral der Martinsgeschichte ja nicht sein, dass das eigentlich gute und gottgefällige Werk im Leiden der Frommen besteht. Gleichwohl seziert Kehlmann in seinen Romanen gern fromme Floskeln und Gottesvorstellungen, den Glauben und Unglauben mit ihren Argumenten (besonders in seinem Roman "F", aber immer wieder auch in "Tyll").
Und natürlich muss heute klargestellt werden, dass es nicht das (gesinnungsethische) Teilen an sich ist, dass christlicherseits herausgestellt werden müsste, sondern die langfristig hilfreiche (verantwortungsethische) Wirkung des Teilens. 

Der andere Martin hat auch Hände.
Schlosskirche zu Wittenberg, 2017.
Leider nur gibt die fromme Tradition eher Kehlmann als dem sozialwirksamen Denken der heutigen caritasverwöhnten Christen recht, denn der anschließende Traum des heiligen Martin deutet die Tat christologisch, denn er lässt Christus selbst im zuvor geteilten Mantel auftreten und an Mt 25,40 gemahnend sagen, dass Martin mit seinem guten Werk ihm geholfen habe.

Ist die Moral also nun, dass nicht die Linderung des Leidens der Bedürftigen im Vordergrund steht, sondern die fromme Tat als solche, selbst wenn sie das Leid eher verdoppelt?

3
Auf beide Fragen muss man aus christlicher Perspektive mit Nein antworten.
Ich denke, dass gerade gegen den unaufhaltsamen Strom eines frustrierend systematischen "Immer-wieder" mutig das "Trotzdem" gestellt werden muss. Selbst wenn ich an den Strukturen nichts ändern kann, muss ich doch helfen, wo Not ist.
Und natürlich entspricht die wirksame Hilfe dem christlichen Auftrag eher als plan- und sinnloses Gehelfe. Denn wo Hilfe dem bestehenden System in die Speichen fällt und neue Strukturen schaffend als Notwende wirkt, ist sie wirklich christliches Heilshandeln in der Welt. 

1   M. Kehlmann, Tyll. Reinbeck bei Hamburg 2017, 7.