Antonia Baum hat 2016 mit "Tony
Soprano stirbt nicht" ein sehr gelungenes Buch
veröffentlicht, in dem sie die Gedanken und Erlebnisse reflektiert,
die sie während des Wartens auf die Heilung ihres verunfallten
Vaters hatte.
Die Ausgangssituation kann absurder
nicht sein: Vor der Veröffentlichung ihres zweiten Romans, in dem es
um einen abwesenden Vaters geht, dessen Leben ständig gefährdet
scheint, hat ihr eigener Vater tatsächlich einen Unfall und liegt im
Koma.
Dieses Zusammenfallen von Motiven des
eigenen Romans und der eigenen Biographie ist, wie man so sagt, eine
Geschichte, die das Leben schreibt – wer sie sich ausdächte, würde
als unrealistisch ausgelacht werden. Und doch scheint sie so
geschehen zu sein.
In dieser Frage nach der Beziehung von
Wunsch und Gedanke zum wirklichen Leben hat das Buch auch sein
Zentrum. Als Autorin ist Antonia Baum gewohnt, dass alles einen roten
Faden hat und auf ein logisches Ende hinausläuft. Das ist der Sinn
des Schreibens.
Sinn oder Form? Neukölln, Berlin, 2017. |
Für das Leben und die Welt außerhalb
des Schreibens aber setzt sie nüchtern voraus, dass ein solcher
roter Faden nicht existiert.
Und doch führt das Unglück ihres
Vaters sie in eine äußerst überzeugende Introspektion, in der man
Elemente der ignatianischen "Unterscheidung der Geister"
erkennen mag.
Denn es ist eine Art Selbstbefragung,
die nun einsetzt und zaghaft auch andere Möglichkeiten in Betracht
zieht.
Gab es Hinweise und Zeichen? Hat die
ausgefallene allerletzte Umarmung vor der Abfahrt des Vaters zum
Unfall geführt? War ihr Buch Auslöser für das Geschehene? Und
könnte das Davonpusten augefallener Wimpern zum Erwachen des Vaters
führen?
"Der Kopf sucht nach Auswegen.
Ich zog Schlüsse. Ich ermittelte von morgens bis abends
Zusammenhänge und Anhaltspunkte, die bei Prognosen über den
möglichen Verlauf hilfreich sein könnten."1
Aber
sie kommt zum Schluss: "Der Tod ist nicht an
Zusammenhängen interessiert ... Der Tod kommt einfach, dem sind
Narrative scheißegal."2
Die Zweifel und das innere Chaos führen
sie weite gedankliche Wege - von der distanzierten Vernunftschärfe
über kindliche Wunschträume bis hin zum Gebet.
Denn auch die Möglichkeit eines Gottes
kommt neu in den Blick. Bei den vielen Fahrten quer durch Deutschland
zwischen ihrem Zuhause und dem Krankenhaus fängt sie dann an zu
beten. "Und ich kam mir dabei nicht lächerlich vor."3
Das wird sich nach den emotionalen
Achterbahnfahrten wieder ändern.
Aber es weist hin auf eine Sehnsucht
nach Sinn und Zusammenhang, die wohl bei vielen jungen Deutschen
unserer Generation irgendwann aufploppt und die fast genauso viele
wieder als nutzlos und nichtig abtun.
Und doch finde ich den Zweifel und die
Beschäftigung mit der Frage nach Hoffnung und innere Konsistenz im
Angesichts von persönlichen Katastrophen bemerkenswert.
Auch bei Dimitrij Kapitelman
ist es übrigens die Suche nach Orientierung im Chaos des Lebens,
genauso wie im Nachforschen in der Familiengeschichte bei Katja Petrowskaja
oder im Kampf mit Glaube und Unglaube bei der neu betenden Esther Maria Magnis.
Kein Ausweg. Hof des Japanischen Palais, Dresden, 2017. |
Wenige begehren noch so
leidenschaftlich gegen einen (ungerechten) Gott auf, wie es Christoph
Schlingensief im Tagebuch seiner Krebserkrankung getan hat. Mir
scheint vielmehr, dass oft Verena Luekens innere Härte, wie sie in
"Alles zählt" zum Ausdruck kommt, gesellschaftlich
die Oberhand gewonnen hat. Aber gerade diese vom Krebs befallene
Journalistin reflektiert auch auf die Bedingungen des Fehlens von
Hoffnung und Sinn:
"Sie ahnte, es hatte damit zu
tun, dass es in ihrer Generation, soweit sie sich von der Kirche
verabschiedet hatte, keine neuen Formen für den Ernstfall gab. Für
den Eintritt in die Gesellschaft nicht und für den Abschied aus der
Welt auch nicht. Jeder wurschtelte sich so durch. ... Offenbar
gibt es eine große Ratlosigkeit in diesen Fragen."4
Diese Ratlosigkeit sucht sich ihre
Auswege.
Antonia Baum erkennt ganz klar, dass
sie etwas tun will. Und sei es durch das bewusste Fortpusten der
Wimpern und die Formulierung eines Wunsches für den Vater. Einfach
irgendetwas tun für den geliebten Menschen!
"Magisches Denken" hat
Joan Didion das genannt.
Ich persönlich glaube, dass beim Weg,
der in der Mitte zwischen Resignation und Bekehrung hindurchführt,
genau zu unterscheiden wäre zwischen der Suche nach Zeichen in Film,
Buch oder eigenem Handeln und dem Vertrauen auf Gott.
Selbst wenn jemand das Wort Gott nicht
benutzen möchte, so ist es doch das Synonym für das Vertrauen in
die Logik des Seins. Das Vertrauen in etwas Tragendes. In einen
Grund.
Dieses Vertrauen ist eine
Herausforderung, ein Sprung ins Dunkle.
Dieses Vertrauen verlangt einem einiges
ab, vor allem dann, wenn man in der komfortablen Erste-Welt-Situation
sitzt, in der normalerweise keine schlimmen Dinge geschehen (die
Autorin reflektiert das wunderbar!). Und plötzlich wackelt alles.
Antonia Baums Buch ist ein
hervorragender und eingängig geschriebener Denkanstoß für diese
Frage nach Sinn und Unsinn des Lebens – und nach dem persönlichen
Standpunkt. Pointiert schließt sie:
"Vor dem Unfall wusste ich,
dass es für mich keine Gott gibt; ich wusste, dass die Vorstellung,
man könne sein Leben machen, größenwahnsinnig ist, weil es Dinge
gibt, die man nicht beeinflussen kann; ich wusste, dass ich das Leben
nicht lesen kann wie einen Roman, in dem Zeichen versteckt sind; ...
Ich wusste all das vor dem Unfall, ich wusste es während der Zeit,
in der nichts sicher war, und ich weiß es jetzt. Aber ich weiß
nicht, ob und vor allem wie ich diese Zeit überstanden hätte, wenn
ich nicht davon ausgegangen wäre, dass es anders wäre."5
Das ist der Anfang.
Ein Zeichen? Ein Anfang von etwas? Ein Zug? Döbritschen, Thüringen, 2017. |
1 A.
Baum, Tony Soprano stirbt nicht. Hambug 2016, 52f.
2 Ebd.,
53.
3 Ebd.,
61.
4 V.
Lueken, Alles zählt. Köln 2015, 34.