Montag, 6. November 2017

Auf der Suche nach den roten Fäden. "Tony Soprano stirbt nicht" von Antonia Baum

Antonia Baum hat 2016 mit "Tony Soprano stirbt nicht" ein sehr gelungenes Buch veröffentlicht, in dem sie die Gedanken und Erlebnisse reflektiert, die sie während des Wartens auf die Heilung ihres verunfallten Vaters hatte.

Die Ausgangssituation kann absurder nicht sein: Vor der Veröffentlichung ihres zweiten Romans, in dem es um einen abwesenden Vaters geht, dessen Leben ständig gefährdet scheint, hat ihr eigener Vater tatsächlich einen Unfall und liegt im Koma.

Dieses Zusammenfallen von Motiven des eigenen Romans und der eigenen Biographie ist, wie man so sagt, eine Geschichte, die das Leben schreibt – wer sie sich ausdächte, würde als unrealistisch ausgelacht werden. Und doch scheint sie so geschehen zu sein.
In dieser Frage nach der Beziehung von Wunsch und Gedanke zum wirklichen Leben hat das Buch auch sein Zentrum. Als Autorin ist Antonia Baum gewohnt, dass alles einen roten Faden hat und auf ein logisches Ende hinausläuft. Das ist der Sinn des Schreibens.

Sinn oder Form?
Neukölln, Berlin, 2017.
Für das Leben und die Welt außerhalb des Schreibens aber setzt sie nüchtern voraus, dass ein solcher roter Faden nicht existiert.
Und doch führt das Unglück ihres Vaters sie in eine äußerst überzeugende Introspektion, in der man Elemente der ignatianischen "Unterscheidung der Geister" erkennen mag. 
Denn es ist eine Art Selbstbefragung, die nun einsetzt und zaghaft auch andere Möglichkeiten in Betracht zieht.
Gab es Hinweise und Zeichen? Hat die ausgefallene allerletzte Umarmung vor der Abfahrt des Vaters zum Unfall geführt? War ihr Buch Auslöser für das Geschehene? Und könnte das Davonpusten augefallener Wimpern zum Erwachen des Vaters führen?
"Der Kopf sucht nach Auswegen. Ich zog Schlüsse. Ich ermittelte von morgens bis abends Zusammenhänge und Anhaltspunkte, die bei Prognosen über den möglichen Verlauf hilfreich sein könnten."1
Aber sie kommt zum Schluss: "Der Tod ist nicht an Zusammenhängen interessiert ... Der Tod kommt einfach, dem sind Narrative scheißegal."2

Die Zweifel und das innere Chaos führen sie weite gedankliche Wege - von der distanzierten Vernunftschärfe über kindliche Wunschträume bis hin zum Gebet.
Denn auch die Möglichkeit eines Gottes kommt neu in den Blick. Bei den vielen Fahrten quer durch Deutschland zwischen ihrem Zuhause und dem Krankenhaus fängt sie dann an zu beten. "Und ich kam mir dabei nicht lächerlich vor."3

Das wird sich nach den emotionalen Achterbahnfahrten wieder ändern.
Aber es weist hin auf eine Sehnsucht nach Sinn und Zusammenhang, die wohl bei vielen jungen Deutschen unserer Generation irgendwann aufploppt und die fast genauso viele wieder als nutzlos und nichtig abtun.
Und doch finde ich den Zweifel und die Beschäftigung mit der Frage nach Hoffnung und innere Konsistenz im Angesichts von persönlichen Katastrophen bemerkenswert.
Auch bei Dimitrij Kapitelman ist es übrigens die Suche nach Orientierung im Chaos des Lebens, genauso wie im Nachforschen in der Familiengeschichte bei Katja Petrowskaja oder im Kampf mit Glaube und Unglaube bei der neu betenden Esther Maria Magnis.

Kein Ausweg.
Hof des Japanischen Palais, Dresden, 2017.
Wenige begehren noch so leidenschaftlich gegen einen (ungerechten) Gott auf, wie es Christoph Schlingensief im Tagebuch seiner Krebserkrankung getan hat. Mir scheint vielmehr, dass oft Verena Luekens innere Härte, wie sie in "Alles zählt" zum Ausdruck kommt, gesellschaftlich die Oberhand gewonnen hat. Aber gerade diese vom Krebs befallene Journalistin reflektiert auch auf die Bedingungen des Fehlens von Hoffnung und Sinn:
"Sie ahnte, es hatte damit zu tun, dass es in ihrer Generation, soweit sie sich von der Kirche verabschiedet hatte, keine neuen Formen für den Ernstfall gab. Für den Eintritt in die Gesellschaft nicht und für den Abschied aus der Welt auch nicht. Jeder wurschtelte sich so durch. ... Offenbar gibt es eine große Ratlosigkeit in diesen Fragen."4

Diese Ratlosigkeit sucht sich ihre Auswege.
Antonia Baum erkennt ganz klar, dass sie etwas tun will. Und sei es durch das bewusste Fortpusten der Wimpern und die Formulierung eines Wunsches für den Vater. Einfach irgendetwas tun für den geliebten Menschen!
"Magisches Denken" hat Joan Didion das genannt.

Ich persönlich glaube, dass beim Weg, der in der Mitte zwischen Resignation und Bekehrung hindurchführt, genau zu unterscheiden wäre zwischen der Suche nach Zeichen in Film, Buch oder eigenem Handeln und dem Vertrauen auf Gott.
Selbst wenn jemand das Wort Gott nicht benutzen möchte, so ist es doch das Synonym für das Vertrauen in die Logik des Seins. Das Vertrauen in etwas Tragendes. In einen Grund.

Dieses Vertrauen ist eine Herausforderung, ein Sprung ins Dunkle.
Dieses Vertrauen verlangt einem einiges ab, vor allem dann, wenn man in der komfortablen Erste-Welt-Situation sitzt, in der normalerweise keine schlimmen Dinge geschehen (die Autorin reflektiert das wunderbar!). Und plötzlich wackelt alles.

Antonia Baums Buch ist ein hervorragender und eingängig geschriebener Denkanstoß für diese Frage nach Sinn und Unsinn des Lebens – und nach dem persönlichen Standpunkt. Pointiert schließt sie:

"Vor dem Unfall wusste ich, dass es für mich keine Gott gibt; ich wusste, dass die Vorstellung, man könne sein Leben machen, größenwahnsinnig ist, weil es Dinge gibt, die man nicht beeinflussen kann; ich wusste, dass ich das Leben nicht lesen kann wie einen Roman, in dem Zeichen versteckt sind; ... Ich wusste all das vor dem Unfall, ich wusste es während der Zeit, in der nichts sicher war, und ich weiß es jetzt. Aber ich weiß nicht, ob und vor allem wie ich diese Zeit überstanden hätte, wenn ich nicht davon ausgegangen wäre, dass es anders wäre."5

Das ist der Anfang.

Ein Zeichen? Ein Anfang von etwas? Ein Zug?
Döbritschen, Thüringen, 2017.

1   A. Baum, Tony Soprano stirbt nicht. Hambug 2016, 52f.

2   Ebd., 53.

3   Ebd., 61.

4   V. Lueken, Alles zählt. Köln 2015, 34.


5   A. Baum, a.a.O., 138f.