Esther Maria Magnis erzählt ihre
persönliche Geschichte mit und ohne und wieder mit Gott – und
dabei wirft sie eine Unzahl philosophischer, existenzieller,
theologischer Fragen auf, die sie in souverän eigener und
eindringlicher Sprache präsentiert.
Kurz: ein Lesegenuss, der herausfordert
und der, trotz mancher kleinen Längen, eine äußerst
empfehlenswerte Lektüre für alle Glaubenden und mit Gott Ringenden
ist. Formal handelt es sich dabei um einen Hybriden: neben
essayistische Passagen treten Erinnerungen, neben Kommentaren zu
grundsätzlichen Fragen stehen poetische oder romanhafte Passagen.
Alles Umschaufeln. Grünheide, 2016. |
Die mittlerweile als studierte
Religionswissenschaftlerin in Berlin lebende Autorin beschreibt
zunächst die spießige Gläubigkeit rings um ihre Herkunftsfamilie,
die in den deutschen Kirchen oft zu finden ist: viel Politik und viel
Moral, viel musikalisches Pathos und in all dem wenig Gespür für
den so unfassbar alles überragenden Gott.
Trotzdem scheint es, als würde sie
schon als Kind und Jugendliche einen besonderen religiösen Sensus
besitzen, der sie befähigt, wirklich zu beten.
Die Krebserkrankung und der Tod ihres
Vaters wird für Magnis schließlich zum lebenserschütternden Bruch.
Denn auf die Dauer hilft nichts gegen den nahenden Tod – kein
Gebet, keine Behandlung, kein Hoffen, nichts.
"Ich hab es so sehr versucht.
Ich hab's versucht, wie die aus der Bibel, ich hab versucht, nicht
einer von den schlechten Zweiflern zu sein, ich hätte die Dächer
abgedeckt und die Trage mit Papa hinuntergelassen, ich wär auf das
Wasser gestiegen, ich hätte mich nicht umgewandt, ich wär auf dem
Bauch durch die Menge gekrochen, nur sein Gewand zu berühren, ich
wäre einem Stern gefolgt, ich hätte auf jeden bekackten Engel
gehört, ich hätte das alles getan, ich wär bereit gewesen dazu,
ich hab so gebetet, als hätt ich's schon empfangen, worum ich bat,
und ich hab es wirklich geglaubt, das Gott ihn heilen kann. Und ER?"1
Gott tut nichts, er gibt kein Zeichen
und zeigt nicht einmal, dass es ihn gibt. So erscheint es ja auch für
den Großteil von Gläubigen und Ungläubigen auf dieser Welt.
Auf sein Schweigen hier aber folgt der
Hass der Ich-Erzählerin:
"Ich habe ihm geschworen, dass
ich nie wieder mit ihm sprechen werde, dass ich ihn den Rest meines
Lebens hasse dafür.
Das Schlimme war ja, dass ich
wusste, dass es ihn gab. Diese Gewissheit war ganz klar da, das gebot
mir nach wie vor mein Intellekt. Also, was für ein Schwein ist das,
das nicht mal meinen Glauben an seine Wunder will!"2
Damit ist die Autorin allerdings
meilenweit von der religiösen Lebenswirklichkeit vieler Zeitgenossen
entfernt. So viel Leidenschaft und Emotion steckt sicher in den
wenigsten Menschen, die sich heute von Gott abwenden. Und dies hat
vorrangig mit der religiösen Sozialisation in einer
"konfessionsverbindenden" Ehe zu tun, die im Buch
anschaulich geschildert wird.
Nichtsdestotrotz führt ihr Ekel vor
der seichten Mainstreamkirche der 70er und 80er Jahre in Verbindung
mit dem Gefühl des völligen Verlassenseins letztlich zum inneren
Bruch.
Verlassener Garten. Rostock, 2015. |
Doch auch der kommt nicht unvermittelt
– und mindestens in der Rückschau beweist die Autorin eine
Fähigkeit zu scharfer Kritik an der gesellschaftlich akzeptierten
Alternative: Kein Weiterleben nach dem Tod.
Die Kommentare Nichtgläubiger zu
diesem Thema werden ihr zur intellektuellen Zumutung:
"Ich hielt das nicht aus. Dass
solche Dinge als Weltanschauung gesagt wurden, mit intellektuellem
Gestus, und nicht in totaler Verzweiflung. ... Wo war deren
Traurigkeit? Warum wirkten die so souverän? Sie hatten keinen Grund
dazu. Sie waren Wurmfutter, nach eigener Meinung. ... Diese Menschen
können nicht glauben, was sie da sagen, dachte ich, und wenn doch,
dann müssen sie eine Kraft haben, die übermenschlich ist, oder sie
lieben niemanden, nicht einmal sich selbst, aber dafür lächelten
sie zu viel."3
Die ratonal überegen wirkende
Leichtfertigkeit, mit der solche Aussagen getroffen werden, stimmt
nicht überein mit nichtreligiösen Lebensentwürfen. Denn die
Drastik dieser Überzeugung führt sich niemand wirklich vor Augen.
Diese Inkonsequenz dramatisch hervorzuheben und anzugreifen ist ein
großes Verdienst dieses Buches.
Was Magnis schließlich zur wirklichen
Abkehr von Gott hilft, ist ein radikaler Nihilismus, den sie zwar
nicht auslebt, der sich aber über alles legt, was sie tut. In stark
literarischer Qualität tritt dies hervor, als sie beschreibt, wie im
Herbst eine häusliche Lethargie um sich greift: "Wir räumten
das nicht auf. Es fror in diesem Winter so ein."4
Auslösendes Moment ist die Erfahrung
von innerer Freiheit während einer stark alkoholisierten
Karsamstagnacht im Wald. Gelöst fühlt sie sich und von allen
Kämpfen befreit – der Atheismus erscheint ihr als ein Loslassen
und völliges Aufgeben,
so dass sie formuliert:
"Wir Menschen sind frei, weil
wir nichts wiegen. Das wurde mir klar. Niemand kann mich zwingen, zu
glauben, dass wir eine Würde haben. Sollen sie ihre Mythen den
Kindern erzählen, ich glaube nicht an unseren Wert. Ich glaube nicht
an den Wert dieser Welt. Sie wird vorbeigehen. Das sagen sie alle
selbst."5
Magnis wächst so hinein in eine
ideologie- und hoffnungsfreie Weltsicht, in der die Desillusionierung
durch den Blick "in the long run" siegt, der
von der großen Stille nach dem Ende ausgeht: "Kein Gedanke
wird siegen, Gut und Böse sind mit uns verschwunden, und dann ist
das Universum erlöst vom Stöhnen der Menschen, vom Atmen und
Keuchen. Vom Wimmern und Lachen. Vom Lärm, der hier war. Es wird
Stille sein. ... Und aus dieser meinungslosen Stille, die nach der
Welt kommen wird, empfing ich damals in der Nacht diese neue Form der
Freiheit."6
Diese Art von Freiheit lockert den
Druck, nach Sinn zu suchen und in einer sinnvollen Welt leben zu
wollen. Zugleich aber versteht die Autorin mehr und mehr, dass dies
auch heißt, alles ohne Sinn selbst aushalten zu müssen. Darin
erlebt sie "zum ersten Mal die Verzweiflung, dass man sich
selbst nicht auslöschen kann. ... Dass man seine Existenz ertragen
muss. Dass sie eine Aufgabe ist, ungefragt bekommen."7
Alles, was das Leben dann ausmacht, ist der Takt des Lebens selbst,
ein Takt, der ebensowenig Sinn macht wie das Leben, der keinen
Abschluss bringt, keine wirklichen Entscheidungen. Der nur Takt
bleibt, "ein ewiger Takt, der einen nicht erlösen kann und
immer über den Nullpunkt hinwegfährt, und je länger man dem
Metronom zuhört, je deutlicher es klingt, umso länger und leerer
wird die Stelle in der Mitte, wenn es über null schwingt".8
Feuer unter Wasser. Grünheide, 2016. |
Sicher wird die Sensibilität für eine
solch tiefe Leere im eigenen Inneren nicht immer gleich stark sein,
sicher wird Alltagsgeräusch vieles übertönen, aber wer die Stille
zulässt, wird dies in einem Leben ohne höheren Sinn sicher auch
irgendwann wahrnehmen können.
Magnis' erfährt diese Stille ohne
Anrede an ein transzendentes Gegenüber radikal – und begreift nach
und nach, dass auch diese Stille noch von Gott unterfangen ist: "In
mir mag es in den Jahren nach dieser Nacht im Wald geschwiegen haben,
... es mag so gewesen sein, dass keine Frage mehr jammerte, kein Hass
mehr flüsterte – Gott muss noch leiser gewesen sein als das. Seine
Macht muss in der Stille liegen. Sein Schweigen scheint mir
unerbittlich gegen das Schweigen der Welt. Seine Stille ist gnadenlos
gegen den Tod. Sie bringt das Nichts zum Bersten."9
Ich glaube, dass dies eine
entscheidende Erfahrung in unserer säkularisierten Welt sein kann –
dass keine Wut gegen Gott und kein aggressives Abwenden von ihm da
ist, sondern nur Vergessensein der göttlichen Wirklichkeit. Und dass
Gott genau darin wieder wirken kann.
Magnis erlebt einen cartesianischen
Moment von neuem Ich-Bewusstsein: sanft und langsam bauen sich die
Welt und ihr Ich neu auf, weil sie bemerkt, dass sie wirklich da ist:
"Wer beginnt, 'Ich' zu sagen, der hat die unsichtbare Welt
schon betreten, weil wir alle keine Beweise für uns haben. Weil wir
uns alle still und heimlich darauf verlassen, wirklich zu sein. Weil
wir im Respekt vor diesem unabweisbaren Geheimnis unserer Existenz
sogar von einer Würde sprechen. Sichtbar ist die nicht. Es ist eine
Annahme. Ein Glaube."10
Aus solcher lichten Tiefe beginnt ihr
Durst nach Wirklichkeit und Wahrheit. Hier beginnt Gott als ein Neuer
aufzutauchen. Nicht mehr der Gott eines Kindes, der Gott einer
ethisch korrekten Kirche mit ihrer von diesem Gott existenziell
weitgehend abgekoppelten Rede von weltweiter Gerechtigkeit –
sondern es ist der stille Ernst eines Gottes, von dem nur aus
mystischer Erfahrung voller Verlust und Nichts heraus gesprochen
werden kann.
Das findet Magnis schließlich wieder
in den biblischen Schriften. Hiob und Jesus, der ungebändigte Gott
der Wüstenerfahrungen, ein Gott, vor dem nur Knien wirklich
angemessen ist. Und der selbst voller Welt ist, als er in Jesus
Mensch wurde. Die Bekenntnisse, die sich an diesen Stellen finden,
sind ergreifend und geben Mut, mit dem ungewaschenen und flirrenden
Gottesbild der Bibel und des Christentums ernst zu machen:
"Jede Religion, die Blut an den
Händen hatte, und das nicht verdrängte, schein mir
vertrauenswürdig. Denn mich interessierte keine blanke Idee, ich
wollte die Wirklichkeit – mit Gott. Und überall, wo der Mensch
versucht, mit dem Heiligen umzugehen, kann er nur scheitern. Dieses
Buch hier, das ich schreibe, ist voll von Müll und halbfertigen
Gedanken – und das, obwohl ich es wage, von Gott zu erzählen.
Sobald der Mensch die Verantwortung für etwas Großes in die Hand
bekommt, baut er Mist. Vielleicht bin ich deswegen heute katholisch.
Ich liebe die Gründungsgeschichte: Petrus bekommt das Amt von Gott,
und das Erste, was er macht, ist – Scheiße bauen, ihn verleugnen,
und das wird bis heute erzählt. Das wurde nicht rausgestrichen aus
der Bibel."11
Man sieht: ein hartes Buch, ein Buch,
das versucht, der Welt und dem Leben auf den Grund zu gehen – um
dann wieder aufzutauchen. Ein Buch auch mit pathetischem Ernst, aber
insgesamt voll Lockerheit und zugleich mit einer ehrlichen Sprache,
die versucht, Gott als den Fels, an dem man sich ein Leben lang
abarbeiten muss, nicht kleinzureden.
Von all dem zeugt auch mein
Lieblingssatz, der vieles von dem Gesagten zusammenfasst:
"Ich habe zu knien
begonnen."12
Mit Gott allein. Bank am Seddiner See, 2016. |
1 E.M.
Magnis, Gott braucht dich nicht. Eine Bekehrung. Reinbek bei Hamburg
2014, 106.
2 Ebd.,
108.
3 Ebd.,
120.
4 Ebd.,
137.
5 Ebd.,
157.
6 Ebd.,
158.
7 Ebd.,
164.
8 Ebd.,
170.
9 Ebd.,
173.
10 Ebd.,
182.
11 Ebd.,
204.
12 Ebd.,
196.