Das Evangelium des Sonntags (Lk
7,26-8,3)
handelt vom Besuch Jesu bei einem Pharisäer und der Begegnung mit
einer "Sünderin", die Jesu Füße salbt und ein Gespräch
über Vergebung in Gang bringt. Damit berührt diese Geschichte
Fragen, die mich immer wieder beschäftigen: die Problematik von
Vergebungsbereitschaft und Vergebungsmöglichkeit, die ich, unter
anderen Vorzeichen als zur Zeit Jesu, gerade in unserer heutigen
säkularen Gesellschaft für äußerst gewichtig halte.
Gibt es überhaupt die richtige Klingel? Halle / Saale, 2016. |
Die Einstellungen zum Thema Sünde und
Vergebung könnten in den verschiedenen Ecken unserer Gesellschaft
nicht weiter auseinander klaffen – einerseits spüren viele
Menschen die zu oft nicht wahrgenommene Verantwortung gegenüber der
Schöpfung und lassen sich insbesondere von Leiden und Tod der Tiere
durch die Hand des Menschen erschüttern. Das ungeheure
Schuldigwerden ist hier so offensichtlich, dass es unabweisbar
scheint. Andererseits leben wir in einer Zeit des Unschuldswahns, die
zwar hier und da Verantwortlichkeiten Einzelner sieht, gleichwohl die
Macht der biologischen, sozialen und politischen Umstände so stark
gewichtet, dass die Rede vom Schuldigwerden als moralinsauer und
altmodisch abgetan wird.
Ganz ähnlich greift Papst Franziskus
in einem Gespräch über die Barmherzigkeit Pius XII. und sein Diktum
vom neuzeitlichen Verlust des Bewusstseins für die Sünde auf –
und fügt an: "Heute kommt noch ein weiteres Drama hinzu,
nämlich dass wir unser Übel, unsere Sünde als unheilbar
betrachten, als etwas, das weder geheilt noch vergeben werden kann.
Es fehlt die konkrete Erfahrung der Barmherzigkeit. Die
Verwundbarkeit unserer Zeit ist auch das: der mangelnde Glaube
daran,dass es Erlösung gibt, eine Hand, die uns aufhebt, eine
Umarmung, die uns rettet, uns vergibt, uns aufnimmt, uns mit
unendlicher Liebe überschwemmt, geduldig und nachsichtig."1
Wohin also geht ein säkularer Mensch,
der mit Gott nichts am Hut hat und aufgrund seiner Lebensumstände
von Schuldgefühlen geplagt ist? Wo findet er Frieden?
Eine Frau, die abgetrieben hat und sich
im Nachhinein mit dieser Entscheidung plagt. Ein Mann, der die
pflegebedürftigen Eltern ins Heim gegeben hat und sich nach deren
Tod Vorwürfe macht. Eine Frau, die beruflich schwerwiegende
Entscheidungen über andere Menschen treffen muss und angesichts
dieser Machtfülle nicht mehr ruhig schlafen kann.
Dergleichen Beispiele ließen sich
beliebig vermehren.
Hier ist die biblische Geschichte ganz
aktuell: Denn dahinter steckt die Frage, wohin in dieser
zwiespältigen heutigen Welt jemand gehen kann, der in der
Verzweiflung seines Schuldig-geworden-seins Vergebung sucht.
(Nachgeordnet ist hier die Frage, ob so
jemand eine christliche Kirche aufsuchen würde, weil diese den
Eindruck einer vergebungsbereiten Einrichtung macht – ich zweifle!)
Und von der anderen beschriebenen Seite
her: Wie lässt sich die Einsicht wecken, dass es bisweilen wichtig
und heilsam ist, sich vergeben zu lassen?
Ich sehe hier keine eindeutigen
Antworten.
Aber im christlichen Glauben stecken
diese zwei Verheißungen:
Sich vergeben lassen ist eine
vielleicht ungewohnte Verdemütigung, aber eine aufrichtend heilsame.
Und: Mit Gott gibt es eine Person, die vergeben will, so dass
Verzweiflung nicht das letzte Wort hat.
Oder mit einem Wort von Jan Twardowski:
Die Hoffnung eines Vergebung Suchenden besteht darin: "geliebt
sein und noch nichts davon wissen".2
Geliebt und gehalten. Pforte der Barmherzigkeit, St. Paulus, Berlin, 2016. |
1 Papst
Franziskus, Der Name Gottes ist Barmherzigkeit. Ein Gespräch mit
Andrea Tornelli. 3. Aufl. München 2016, 37.
2 J.
Twardowski, Bóg prosi o miłość. Gott fleht um Liebe. Ausgewählt
und bearbeitet von Aleksandra Iwanowska. Krakau 2000, 195.