Zurückblicken heißt immer auch,
Geschichte zu deuten – gerade in Polen und Deutschland jedoch kommt
es durch die verschiedenen Perspektiven auf die Geschichte regelmäßig
zu Konflikten. In diesem Jahr allerdings wird am 17. Juni besonders
an 25 Jahre freiwillige gute Nachbarschaft mit den Polen erinnert.
Was Deutsche, jedenfalls zu Teilen, in
ihr kollektives Gedächtnis aufgenommen haben, ist eine (auf anderen
Feldern bisweilen arg vernachlässigte) politische Tugend: die der
Selbstkritik.
Als historisch angewandter
Perspektivwechsel bezeichnet sie die Fähigkeit, sich auch mit den
Schattenseiten der eigenen Kultur auseinander zu setzen. So kann sie
bestenfalls Gewissen schärfen und Verantwortungsbereitschaft nähren.
Spiegelschrift. Rixdorf, Berlin, 2016. |
Kulturen, die sich in der historischen
Rückschau von Selbstkritik frei halten wollen, geben sich zur Zeit
besonders deutlich zu erkennen: Sei es die Frage des türkischen
Genozids an den Armeniern, die das nationale türkische Selbstbild zu
verändern droht, sei es die imperiale Stalinverklärung, die in
Russland auf dem Vormarsch ist.
Und auch in Polen wendet sich die
Kulturpolitik seit der Regierungsübernahme der PiS mehr und mehr in
Richtung nationaler Selbstvergewisserung. Darum ist das Selbstbild eines "gekreuzigten Christus der Völker", das von manchen Polen gepflegt wurde, ebensowenig unter aufgeklärter Selbstkritik zu verbuchen wie die Selbstinszenierung als Aufarbeitungsriese seitens der Deutschen.
Doch was bedeutet eine selbstkritische
Haltung denn konkret?
Genauer: Mit wem identifizieren wir
uns, wenn wir zurückschauen? Mit den Opfern eines Konfliktes oder
mit den Tätern? Fragen wir uns beim Gedenken an die Opfer des
Arbeiteraufstandes vom 17. Juni 1953 in der DDR tatsächlich, ob wir
auch protestiert hätten oder lieber zu Hause geblieben wären? Oder
wären wir vielleicht doch der Obrigkeit gefolgt?
Und wenn die Frage der eigenen
Positionierung, wie so oft, nicht klar zu klären ist, weil die
Frage, wer denn die Guten und wer die Bösen waren, mehrdeutig bleibt
– auf welche Seite reduziert sich das öffentliche Bewusstsein
dann?
Sich für eine relativ kleine Gruppe
von Widerständlern auf die eigene patriotische Schulter zu klopfen
und den großen schweigenden Rest zu ignorieren, löst bei mir
jedenfalls Beklemmung aus.
Schließlich kann Selbstkritik ja wohl
kaum bedeuten, dass das öffentliche Gedenken sich auf eine
Einfühlung mit den Opfern reduziert, wie es bei Holocaustgedenken in
Deutschland oft der Fall ist. Nachträgliches Mitleiden mit den
Opfern der eigenen Vorfahren mag rührend sein, aber es dispensiert
eben nicht von der ehrlicheren Beschäftigung mit dem Versagen der
deutschen Eliten angesichts des Nationalsozialismus.
Aus individualethischer Perspektive mag
ein Blick auf die christliche Gewissenserforschung erhellend sein:
sich als ganze Person, d.h. mit Stärken und mit Schwächen, vor Gott
zu bringen ist dann möglich, wenn man sich nicht existenziell
bedroht fühlt von dem, der auf beides schauen kann.
Versöhnungsbereitschaft des einen und Selbstkritik des anderen
stützen sich dann gegenseitig und öffnen für Beziehung.
Transparenz gewährt Einsicht. Dahlem, Berlin, 2014. |
Zur
eigenen Lebensgeschichte mit Licht und Schatten stehen zu können,
ist dann Ausdruck eigener Stärke und wird zugleich nicht Egoismus,
oder im Falle der nationalen Geschichte Nationalismus, begünstigen.
Sprituell: aus Angenommensein wächst Einsicht.
Die polnischen Bischöfe haben es
während des Zweiten Vatikanums vorgemacht: "Wir vergeben und
bitten um Vergebung." haben sie 20 Jahre nach Kriegsende als
Einladung an ihre deutschen Amtsbrüder formuliert und damit einen
fruchtbaren Dialog in Gang gebracht.
Wenn Deutsche und Polen heute also
nicht nur den Höhepunkt ihrer Nachkriegsbeziehung mit dem Abschluss
des Deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrags vor 25 Jahren in
schönes Licht rücken, sondern auch die Zeit davor und danach mit
Hochzeiten und Tiefschlägen nicht vergessen, dann wird ein
realistisches Bild dieser Beziehungen sicher in eine weiterhin gute
Nachbarschaft führen.