Freitag, 17. Juni 2016

Selbstkritik als politische Tugend – Über Polen und Deutsche

Zurückblicken heißt immer auch, Geschichte zu deuten – gerade in Polen und Deutschland jedoch kommt es durch die verschiedenen Perspektiven auf die Geschichte regelmäßig zu Konflikten. In diesem Jahr allerdings wird am 17. Juni besonders an 25 Jahre freiwillige gute Nachbarschaft mit den Polen erinnert.

Was Deutsche, jedenfalls zu Teilen, in ihr kollektives Gedächtnis aufgenommen haben, ist eine (auf anderen Feldern bisweilen arg vernachlässigte) politische Tugend: die der Selbstkritik.
Als historisch angewandter Perspektivwechsel bezeichnet sie die Fähigkeit, sich auch mit den Schattenseiten der eigenen Kultur auseinander zu setzen. So kann sie bestenfalls Gewissen schärfen und Verantwortungsbereitschaft nähren.

Spiegelschrift. Rixdorf, Berlin, 2016.
Kulturen, die sich in der historischen Rückschau von Selbstkritik frei halten wollen, geben sich zur Zeit besonders deutlich zu erkennen: Sei es die Frage des türkischen Genozids an den Armeniern, die das nationale türkische Selbstbild zu verändern droht, sei es die imperiale Stalinverklärung, die in Russland auf dem Vormarsch ist.
Und auch in Polen wendet sich die Kulturpolitik seit der Regierungsübernahme der PiS mehr und mehr in Richtung nationaler Selbstvergewisserung. Darum ist das Selbstbild eines "gekreuzigten Christus der Völker", das von manchen Polen gepflegt wurde, ebensowenig unter aufgeklärter Selbstkritik zu verbuchen wie die Selbstinszenierung als Aufarbeitungsriese seitens der Deutschen.

Doch was bedeutet eine selbstkritische Haltung denn konkret?
Genauer: Mit wem identifizieren wir uns, wenn wir zurückschauen? Mit den Opfern eines Konfliktes oder mit den Tätern? Fragen wir uns beim Gedenken an die Opfer des Arbeiteraufstandes vom 17. Juni 1953 in der DDR tatsächlich, ob wir auch protestiert hätten oder lieber zu Hause geblieben wären? Oder wären wir vielleicht doch der Obrigkeit gefolgt?
Und wenn die Frage der eigenen Positionierung, wie so oft, nicht klar zu klären ist, weil die Frage, wer denn die Guten und wer die Bösen waren, mehrdeutig bleibt – auf welche Seite reduziert sich das öffentliche Bewusstsein dann?
Sich für eine relativ kleine Gruppe von Widerständlern auf die eigene patriotische Schulter zu klopfen und den großen schweigenden Rest zu ignorieren, löst bei mir jedenfalls Beklemmung aus.

Schließlich kann Selbstkritik ja wohl kaum bedeuten, dass das öffentliche Gedenken sich auf eine Einfühlung mit den Opfern reduziert, wie es bei Holocaustgedenken in Deutschland oft der Fall ist. Nachträgliches Mitleiden mit den Opfern der eigenen Vorfahren mag rührend sein, aber es dispensiert eben nicht von der ehrlicheren Beschäftigung mit dem Versagen der deutschen Eliten angesichts des Nationalsozialismus.

Aus individualethischer Perspektive mag ein Blick auf die christliche Gewissenserforschung erhellend sein: sich als ganze Person, d.h. mit Stärken und mit Schwächen, vor Gott zu bringen ist dann möglich, wenn man sich nicht existenziell bedroht fühlt von dem, der auf beides schauen kann. Versöhnungsbereitschaft des einen und Selbstkritik des anderen stützen sich dann gegenseitig und öffnen für Beziehung. 

Transparenz gewährt Einsicht. Dahlem, Berlin, 2014.
Zur eigenen Lebensgeschichte mit Licht und Schatten stehen zu können, ist dann Ausdruck eigener Stärke und wird zugleich nicht Egoismus, oder im Falle der nationalen Geschichte Nationalismus, begünstigen. Sprituell: aus Angenommensein wächst Einsicht.

Die polnischen Bischöfe haben es während des Zweiten Vatikanums vorgemacht: "Wir vergeben und bitten um Vergebung." haben sie 20 Jahre nach Kriegsende als Einladung an ihre deutschen Amtsbrüder formuliert und damit einen fruchtbaren Dialog in Gang gebracht.

Wenn Deutsche und Polen heute also nicht nur den Höhepunkt ihrer Nachkriegsbeziehung mit dem Abschluss des Deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrags vor 25 Jahren in schönes Licht rücken, sondern auch die Zeit davor und danach mit Hochzeiten und Tiefschlägen nicht vergessen, dann wird ein realistisches Bild dieser Beziehungen sicher in eine weiterhin gute Nachbarschaft führen.