Es gibt einen Gemeinplatz zum Thema
Säkularisierung, der öffentlich fast unwidersprochen ist: Er geht
davon aus, dass eine weniger religiös geprägte Gesellschaft (wie
die unsere) automatisch auch schlechtere Bedingungen für die
religiöse Praxis bedeutet.
Und bisweilen mag das auch so sein,
dann nämlich, wenn Religion immer mehr ins Private gedrängt wird
und öffentlich geäußerte religiöse Meinungen in dieser oder jener
Weise unterdrückt oder gar diffamiert werden.
Ich glaube aber, dass es im Gegensatz zu diesen tatsächlich vorkommenden Fällen im Grundsatz genau andersherum ist – und dass aus christlich-theologischer Perspektive die Vorteile des Lebens in einer säkularisierten Umgebung überwiegen.
Ich glaube aber, dass es im Gegensatz zu diesen tatsächlich vorkommenden Fällen im Grundsatz genau andersherum ist – und dass aus christlich-theologischer Perspektive die Vorteile des Lebens in einer säkularisierten Umgebung überwiegen.
Richtig verstandene (und geschriebene) Freiheit. Wedding, Berlin, 2016. |
1.
Zunächst ist empirisch-historisch zu beobachten, dass eine Religion dort, wo sie von staatlicher Seite propagiert oder unterstützt wird oder wurde (also heute beispielsweise in einigen muslimischen Ländern bzw. in der Vergangenheit, vornehmlich im christlich-abendländischen Mittelalter), langfristig inhaltlichen Schaden nahm.
Zunächst ist empirisch-historisch zu beobachten, dass eine Religion dort, wo sie von staatlicher Seite propagiert oder unterstützt wird oder wurde (also heute beispielsweise in einigen muslimischen Ländern bzw. in der Vergangenheit, vornehmlich im christlich-abendländischen Mittelalter), langfristig inhaltlichen Schaden nahm.
Die Verquickung von staatlicher und
religiöser Macht, zu der auch die religiöse Verbrämung und
Legitimierung politischer Machtverhältnisse zählt, führt nämlich
mindestens zur politischen Einflussnahme auf die religiösen Inhalte,
wenn nicht auch zu geistlicher Magersucht oder institutionellem
Größenwahn.
Beispielhaft sei das europäische Hoch-
und Spätmittelalter genannt, dem religiöse Inbrunst im Volk und
theologischer Sachverstand einiger Eliten sicher nicht abzusprechen
ist – ebenso aber lässt sich in Fülle finden: Ämterkauf,
Teufels- und Hexenglaube, finanzielle Bereicherung an der Masse der
Gläubigen, politische Machtkämpfe zwischen weltlicher und
kirchlicher Obrigkeit, spirituelle Lauheit vieler Kleriker und so
fort.
2.
Positiv wäre demgegenüber
herauszustellen, dass eine nicht auf pseudoreligiöse Gründe
gestützte politische Macht die Freiheit des Individuums stärkt und,
wie es Hans Joas formuliert, den "Glauben als Option"
anzubieten.1
Dieses Individuum kann das als eine Emanzipation gegen den Staat
empfinden oder aber (je nach Vorgeschichte) einfach als
Freigesetztsein in eine eigene Glaubensentscheidung. Und das ist
etwas Wesentliches: der religiöse Entscheidungscharakter tritt im
Kontext einer säkularen Welt stärker hervor.
In konstruktivem Widerspruch (oder
Ergänzung) zu einer zuvor in diesem Blog geäußerten Behauptung,
dass dem Glauben als konstitutives Element auch die
Gemeinschaftlichkeit innewohnt, meine ich also theologisch, dass der
Ruf Jesu in seine Nachfolge eine individuelle Entscheidung im
jeweiligen Lebenskontext sein muss, die vielleicht vom jeweiligen
Umfeld gefördert werden kann, dabei aber ohne den in unseren Breiten
aus alter Zeit vielleicht noch bekannten volkskirchlichen Druck
vonstatten gehen muss. Die Entscheidung muss im gläubigen Gewissen
gegenüber dem Ruf Gottes fallen, nirgendwo anders.
Säkularität
bietet durch eine strukturelle Freisetzung institutioneller Religion
die Chance, Gottes Ruf freier zu hören und sich freier zu
entscheiden – freilich muss der Ruf auch von kirchlichen
Institutionen vernehmbar gemacht werden können.
Zugleich wird damit die Weltlichkeit der Welt gewahrt – Herrschaft und Staat werden nicht religiös bemäntelt und die jesuanische Trennung, dass nur das, was wirklich des Kaisers ist, nämlich die Welt, auch dem Kaiser gegeben werden soll (Mk 12,17), kommt zu ihrer vollen Würde und Tragweite.
Zugleich wird damit die Weltlichkeit der Welt gewahrt – Herrschaft und Staat werden nicht religiös bemäntelt und die jesuanische Trennung, dass nur das, was wirklich des Kaisers ist, nämlich die Welt, auch dem Kaiser gegeben werden soll (Mk 12,17), kommt zu ihrer vollen Würde und Tragweite.
Passen Heilige und Berlin nicht zusammen? Plakatwand, Wedding, Berlin, 2016. |
Ferner wird das Motiv der Treue, das im
christlichen Glaubensbegriff steckt, in einer säkularen Umwelt
stärker herausgehoben. In dem von Jesus oft genutzten Bild des
treuen Verwalters, der während der Abwesenheit seines Herrn dem
Vertrauen dieses Herrn entsprechend handelt (vgl. Mt 24,45ff; 25,14ff
u.ö.), steckt der Anspruch, den Platz des Herrn freizuhalten und ihn
nicht durch sich an Gottes Stelle setzende Herrschafts- oder
Gesellschaftsformen zu besetzen. Auf diesem Wege wird auch die Tugend
der Hoffnung auf das noch eschatologisch Ausstehende des
Gottesreiches gestärkt – im Gegensatz zum ganzheitlichen Lebens-
und Glaubensmodell des Mittelalters, das an mancher Stelle als
romantisches Idealbild des Staat-Kirche-Verhältnisses gezeichnet
wird.
Diesen Gedanken ähnlich plädiert auch Hans Küng für ein "neues ökumenisches Paradigma der Säkularität vor religiösem Horizont", das Säkularisierung und Säkularität wertschätzt und nicht bekämpft, dabei aber die säkularen Leitsterne "Wissenschaft, Technologie und Industrie nicht als letzter Sinn, höchster Wert und absolute Norm, den Fortschritt nicht als falschen Gott und als Pseudoreligion" stehenlassen kann und in diesem Sinne aufklärerisch wirkt.[2]
Diesen Gedanken ähnlich plädiert auch Hans Küng für ein "neues ökumenisches Paradigma der Säkularität vor religiösem Horizont", das Säkularisierung und Säkularität wertschätzt und nicht bekämpft, dabei aber die säkularen Leitsterne "Wissenschaft, Technologie und Industrie nicht als letzter Sinn, höchster Wert und absolute Norm, den Fortschritt nicht als falschen Gott und als Pseudoreligion" stehenlassen kann und in diesem Sinne aufklärerisch wirkt.[2]
(Für den Islam gilt das Gesagte nur beschränkt, da seine Vorstellung der Interaktion des Einzelnen mit Gott deutlich von der christlichen Gewissensbindung abweicht, und viel stärker noch sein Bild der Verbindung von Staat und Religion ein gänzlich anderes ist.)
3.
Ich will (dies hier Behauptete nicht
relativierend, aber einordnend) jedoch nicht so weit gehen zu sagen,
dass Marginalisierung wie z.B. eine laizistisch bevormundende
Einflussnahme eine Religion in den meisten Fällen stärken würde,
aber ich glaube, dass "Wettbewerbsgleichheit" verschiedener
Religionen bei freilassender und religionsfreundlicher Atmosphäre,
ähnlich wie es im deutschen politischen System angelegt ist, eine
gute Voraussetzung zu dieser freien Entscheidung für (oder gegen)
eine Religion sein kann.
Dieser Sicht entspricht zugleich auch
eine politisch liberale Haltung, mit der sie zwar nicht die (hier
theologischen) Begründungen, wohl aber die Wertsetzungen teilt.