Donnerstag, 9. Juni 2016

Freier glauben! Von den theologischen Vorzügen der Säkularisierung

Es gibt einen Gemeinplatz zum Thema Säkularisierung, der öffentlich fast unwidersprochen ist: Er geht davon aus, dass eine weniger religiös geprägte Gesellschaft (wie die unsere) automatisch auch schlechtere Bedingungen für die religiöse Praxis bedeutet.
Und bisweilen mag das auch so sein, dann nämlich, wenn Religion immer mehr ins Private gedrängt wird und öffentlich geäußerte religiöse Meinungen in dieser oder jener Weise unterdrückt oder gar diffamiert werden.
Ich glaube aber, dass es im Gegensatz zu diesen tatsächlich vorkommenden Fällen im Grundsatz genau andersherum ist – und dass aus christlich-theologischer Perspektive die Vorteile des Lebens in einer säkularisierten Umgebung überwiegen.

Richtig verstandene (und geschriebene) Freiheit.
Wedding, Berlin, 2016.
1.
Zunächst ist empirisch-historisch zu beobachten, dass eine Religion dort, wo sie von staatlicher Seite propagiert oder unterstützt wird oder wurde (also heute beispielsweise in einigen muslimischen Ländern bzw. in der Vergangenheit, vornehmlich im christlich-abendländischen Mittelalter), langfristig inhaltlichen Schaden nahm.
Die Verquickung von staatlicher und religiöser Macht, zu der auch die religiöse Verbrämung und Legitimierung politischer Machtverhältnisse zählt, führt nämlich mindestens zur politischen Einflussnahme auf die religiösen Inhalte, wenn nicht auch zu geistlicher Magersucht oder institutionellem Größenwahn.
Beispielhaft sei das europäische Hoch- und Spätmittelalter genannt, dem religiöse Inbrunst im Volk und theologischer Sachverstand einiger Eliten sicher nicht abzusprechen ist – ebenso aber lässt sich in Fülle finden: Ämterkauf, Teufels- und Hexenglaube, finanzielle Bereicherung an der Masse der Gläubigen, politische Machtkämpfe zwischen weltlicher und kirchlicher Obrigkeit, spirituelle Lauheit vieler Kleriker und so fort.

2.
Positiv wäre demgegenüber herauszustellen, dass eine nicht auf pseudoreligiöse Gründe gestützte politische Macht die Freiheit des Individuums stärkt und, wie es Hans Joas formuliert, den "Glauben als Option" anzubieten.1 Dieses Individuum kann das als eine Emanzipation gegen den Staat empfinden oder aber (je nach Vorgeschichte) einfach als Freigesetztsein in eine eigene Glaubensentscheidung. Und das ist etwas Wesentliches: der religiöse Entscheidungscharakter tritt im Kontext einer säkularen Welt stärker hervor.
In konstruktivem Widerspruch (oder Ergänzung) zu einer zuvor in diesem Blog geäußerten Behauptung, dass dem Glauben als konstitutives Element auch die Gemeinschaftlichkeit innewohnt, meine ich also theologisch, dass der Ruf Jesu in seine Nachfolge eine individuelle Entscheidung im jeweiligen Lebenskontext sein muss, die vielleicht vom jeweiligen Umfeld gefördert werden kann, dabei aber ohne den in unseren Breiten aus alter Zeit vielleicht noch bekannten volkskirchlichen Druck vonstatten gehen muss. Die Entscheidung muss im gläubigen Gewissen gegenüber dem Ruf Gottes fallen, nirgendwo anders. 
Säkularität bietet durch eine strukturelle Freisetzung institutioneller Religion die Chance, Gottes Ruf freier zu hören und sich freier zu entscheiden – freilich muss der Ruf auch von kirchlichen Institutionen vernehmbar gemacht werden können.
Zugleich wird damit die Weltlichkeit der Welt gewahrt – Herrschaft und Staat werden nicht religiös bemäntelt und die jesuanische Trennung, dass nur das, was wirklich des Kaisers ist, nämlich die Welt, auch dem Kaiser gegeben werden soll (Mk 12,17), kommt zu ihrer vollen Würde und Tragweite.

Passen Heilige und Berlin nicht zusammen?
Plakatwand, Wedding, Berlin, 2016.
Ferner wird das Motiv der Treue, das im christlichen Glaubensbegriff steckt, in einer säkularen Umwelt stärker herausgehoben. In dem von Jesus oft genutzten Bild des treuen Verwalters, der während der Abwesenheit seines Herrn dem Vertrauen dieses Herrn entsprechend handelt (vgl. Mt 24,45ff; 25,14ff u.ö.), steckt der Anspruch, den Platz des Herrn freizuhalten und ihn nicht durch sich an Gottes Stelle setzende Herrschafts- oder Gesellschaftsformen zu besetzen. Auf diesem Wege wird auch die Tugend der Hoffnung auf das noch eschatologisch Ausstehende des Gottesreiches gestärkt – im Gegensatz zum ganzheitlichen Lebens- und Glaubensmodell des Mittelalters, das an mancher Stelle als romantisches Idealbild des Staat-Kirche-Verhältnisses gezeichnet wird.

Diesen Gedanken ähnlich plädiert auch Hans Küng für ein "neues ökumenisches Paradigma der Säkularität vor religiösem Horizont", das Säkularisierung und Säkularität wertschätzt und nicht bekämpft, dabei aber die säkularen Leitsterne "Wissenschaft, Technologie und Industrie nicht als letzter Sinn, höchster Wert und absolute Norm, den Fortschritt nicht als falschen Gott und als Pseudoreligion" stehenlassen kann und in diesem Sinne aufklärerisch wirkt.[2]

(Für den Islam gilt das Gesagte nur beschränkt, da seine Vorstellung der Interaktion des Einzelnen mit Gott deutlich von der christlichen Gewissensbindung abweicht, und viel stärker noch sein Bild der Verbindung von Staat und Religion ein gänzlich anderes ist.)

3.
Ich will (dies hier Behauptete nicht relativierend, aber einordnend) jedoch nicht so weit gehen zu sagen, dass Marginalisierung wie z.B. eine laizistisch bevormundende Einflussnahme eine Religion in den meisten Fällen stärken würde, aber ich glaube, dass "Wettbewerbsgleichheit" verschiedener Religionen bei freilassender und religionsfreundlicher Atmosphäre, ähnlich wie es im deutschen politischen System angelegt ist, eine gute Voraussetzung zu dieser freien Entscheidung für (oder gegen) eine Religion sein kann.

Dieser Sicht entspricht zugleich auch eine politisch liberale Haltung, mit der sie zwar nicht die (hier theologischen) Begründungen, wohl aber die Wertsetzungen teilt. 


1   So der an eine Formulierung von Charles Taylor angelehnte Titel des äußerst lesenswerten Buches: H. Joas, Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums.Freiburg i.Br. 2012.
2    In: H. Küng / J. van Esse, Christentum und Weltreligionen. Islam. 6. Aufl. München 2003, 90.