Die Frage nach der eigenen Identität,
die dieser Tage nicht nur die Katalanen in stürmischer Weise
umtreibt, sondern auch viele verunsichert-besorgte Menschen in den
Demokratien der EU und darüber hinaus, ist eine Frage, die sich auch
alle, die eine Migrationsbiographie haben, immer wieder stellen.
Wo gehöre ich hin, ab wann gehöre ich
dazu, wo will ich überhaupt dazu gehören und wo auf keinen Fall,
welche parallelen oder mehrfachen Zugehörigkeiten habe ich oder habe
ich nicht....?
Der unlängst an diesem Ort schon
erwähnte Roman "Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters"
von Dimitrij Kapitelman hat genau dasselbe Thema – der Erzähler
ist mit seinem Vater nicht nur auf eine biographische, sondern auch
auf eine politische und religiöse Identitätssuche gegangen und nach
Israel gereist.
Neuer Kopf gesucht. Japanisches Palais, Dresden, 2017. |
Dort lernt er nicht nur seinen
titelgebenden Vater neu kennen, sondern vornehmlich sich selbst. Mit
viel Ironie und Sprachgefühl (manchmal auch etwas überdreht) werden
nicht nur verschiedene Themen von antipalästinensischen
Ressentiments aufgeworfen, sondern auch die Frage, was denn ein Jude
eigentlich sei. Schließlich hat der Autor keine jüdische Mutter,
nur den jüdischen Vater – und auch der ist, ebenso wie der Sohn
nichtreligiös.
Allerdings sind die Dinge natürlich
kompliziert, denn der außerhalb Israels ins Unsichtbare drängende
Vater bekennt sich plötzlich fallweise und immer mehr zu seinem
Judesein, erzählt von seinem eigenen Vater, der Rabbi war,
verweigert sich allerdings eindeutigen Bekenntnissen zum Religiösen.
Dazu kommt nicht nur die
jüdisch-orthodoxe Bewertung, nach der Jude ist, wer eine jüdische
Mutter hat, ins Spiel, sondern eben auch die Großzügigkeit des
politischen Israel. Während eines Besuchs im Beit-Hatefutsoth-Museum
kommt der Sohn mit einem Genealogen ins Gespräch, der ihm nach einem
längeren Gespräch versichert: "Sie können sofort Bürger
dieses Landes werden."1
Dieser Satz verändert alles. Von nun
an hat der Identitätssucher einen quasi-religiösen Stimulus, der
ihn vorantreibt. Trotz seiner Unkenntnis religiöser Bräuche und
Riten, trotz seines fehlenden Glaubens und seiner Lebensweise findet
er in diesem Satz einen Ton, den er sein Leben lang gesucht hat. Die
Auswanderung aus der Sowjetukraine in jungen Jahren, die Ausgrenzung
als "Ausländer" in der Schule und die Verfolgung des
"Russen" durch ostdeutsche Neo-Nazis im Leipziger
Plattenbauviertel haben ihre Spuren hinterlassen. Keine Heimat,
nirgends.
Als ihn dann in Tel Aviv auch noch
einige orthodoxe Juden auf der Straße zu einer "Quick-Mizwa"
einladen, lässt er sich überrumpeln und zu einem jüdischen Gebet
inklusive Kippa und Teffilin drängen. Sein inneres Tosen als
atheistischer Deutscher vermischt sich wunderbar mit der Sehnsucht
nach Zugehörigkeit und jüdischer Identität. Der innere Streit ist
eindrücklich wiedergegeben:
Während der Verstand "mit
Begriffen wie künstliche Identitätskonstruktion und emotionale
Überkompensation" hantiert, ruft das Herz "zu
Freudenfesten auf, verfasst Pamphlete, in denen es von Erlösung,
Geborgenheit und einer warmen Heimat schwärmt. Ich werde endlich
ankommen, dazugehören. Kein in Klammern Migrationshintergrund, keine
Skepsis, kein Inneres Gericht. Jude in Israel. Punkt.
Erschreckend, wie sehr ich mich nach
einem klaren Bekenntnis gesehnt habe, sagt der Kopf. Hör nicht auf
den intellektuellen Nörgler, trällert das Herz. Mit dem wirst du
nicht glücklich."2
Dieses Durcheinander löst sich erst
auf, als er nicht nur hebräische und englische Gebetsworte
nachplappern muss, sondern aufgefordert ist, noch ein persönliches
Gebet zu sprechen. Davon vollends überrumpelt – und nach der
richtigen Handhaltung suchend – fühlt er sich als "der
gläubigste Ungläubige",3
der er je war.
Religiöse Bedeutung suchen! Sonnenflecken im Wald bei Eberswalde, 2017. |
Aber genauso wie die Überschneidungen
zwischen religiöser und genetischer jüdischer Identität
unterbelichtet bleiben, wird auch diese Erfahrung auf den nächsten
Seiten im Gespräch mit dem skeptischen Vater wieder runtergedampft
auf die Sehnsucht nach Heimat. "Ankommen und dazugehören.
Als vollwertiges Mitglied anerkannt werden. Ganz
selbstverständlich."4
Dass das als Grundbedürfnis legitim
ist, steht außer Frage. Aber es wirft durch das existenzielle
Gerütteltsein einen staatlichen Akt und den Kern religiösen
Handelns in einen Topf, aus dem keine schmackhafte Mischung kommen
wird.
Dementsprechend religiös mit
Erwartungen überfrachtet wird der Besuch an der Klagemauer, der dem
Autor zwar die Knie schlottern lässt, ihn aber nicht weiter in
Richtung Gebet bringt. Der Versuch, aus dem Nichts religiöse Gefühle
oder eine überwältigende Erfahrung der Zugehörigkeit aufzurufen,
scheitert gehörig: "Ich würde gern, kann aber nicht.
Spirituelle Impotenz. Im Gegensatz zu Papa lasse ich mir dennoch viel
Zeit. Starte mehrere Durchläufe, gehe immer wieder in mich. Alles
zwecklos."5
Ohne überheblich klingen zu wollen,
zeigt sich an dieser Stelle doch ein grundsätzlich problematischer
Zug bei der Annäherung an religiöse Phänomene im Buch. Natürlich
geht ein säkular sozialisierter Mensch heute davon aus, dass die
eigene religiöse Anstrengung und der Versuch, die mentale Offenheit
großzumachen, auch zu spürbaren Ergebnissen und Erlebnissen führt.
Aus der fernöstlichen Spiritualität nach Europa eingebrachte
Methoden suggerieren ja auch eine solche Handbarmachung von
Religiosität durch praktisches Tun.
Allerdings war der biblische Gott immer
einer, der selbst und von sich auf die Menschen zugeht, gerade dann,
wenn sie es nicht erwarten oder wollen. Entgegen mancher (auch
christlicher) Diffamierung ist das Judentum keine Religion der
Machbarkeit. Sondern ein Ereignis, das aus dem Lernen aus der Schrift
und dem Umgehen mit dem göttlichen Gebot, aus der gesamten
Lebensführung und eben auch aus dem Gebet erwächst.
Der Versuch, religiöse Erfahrung
herbeizubeten, widerspricht dieser Einsicht natürlich. Viel öfter
wird es ein radikales Getroffenwerden sein wie bei der Einsicht, als
Sohn eines Juden tatsächlich in diesem Land willkommen zu sein.
Die kritische Quintessenz folgt nach
einem Auflug ins Westjordanland mit dort intensiv erfahrenen
freundschaftlichen Begegnungen mit den verfemten Palästinensern und
lautet, dass sich aus diesen Begegnungen ein neues "Stück
Selbstverständnis" ergab. "Es beruht nicht auf
einem Pass, nicht auf einem Besuch im Diasporamuseum und ganz
bestimmt nicht auf Gebeten an der Klagemauer. Sondern auf der
Freundschaft zu Menschen, die angeblich meine Feinde sind."6
Die Begegnung mit den wirklichen
Nächsten als Offenbarung!
Das ist eine eminent religiöse
Kategorie, auch wenn sie oftmals (und auch in diesem Fall) nicht als
religiöses Ereignis klassifiziert wird. Und sicher, es steckt viel
mehr in der Freundschaft als Religion.
Aber es wäre dem Autor (bzw./und/oder
seinem literarischen Alter Ego) zu wünschen, dass er die religiöse
Seite dieser Begegnung würdigen kann. Das dauernde nachträglich
kritische Zerkauen und Abqualifizieren seiner Erlebnisse hebt ihn
zwar auf die Höhe unserer Zeit.
Das Wertschätzen und Neu-Entdecken
seiner zwischenmenschlichen Erlebnisse auch als religiöse Ereignisse würde ihn weiter
öffnen und seiner Identität spirituelle Potenz einhauchen.
Stichwort Mt 25,40.
Stichwort Mt 25,40.
Echte Gefühle vor der falschen Klagemauer. Ehemaliges Umspannwerk Rixdorf, Berlin, 2017. |
1 D.
Kapitelman, Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters. München 2016,
136.
2 Ebd.,
141f.
3 Ebd.,
142.
4 Ebd.,
149.
5 Ebd.,
167.
6 Ebd.,
255.