Montag, 9. Oktober 2017

Gutgenährt und eingemauert. Ein Absatz aus "Americanah" und die Flüchtlingsfrage

Nun, da die Flüchtlingspolitik der Unionsparteien wieder zu einem deutschen Politikum wird und damit eine wichtige Komponente in den kommenden Sondierungsgesprächen darstellt, nun, da von "atmenden Deckeln" und "Asylzentren" die Rede ist und die neuerliche Unterscheidung zwischen so genannten "Wirtschaftsflüchtlingen" und Asylberechtigten über Wohl und Wehe einer kommenden Regierungskoalition mitentscheidet, in ebendiesem Moment lese ich den wunderbaren Roman "Americanah" von Chimamanda Ngozi Adichie1 und möchte an dieser Stelle einen kurzen literarischen Einwurf zur obenstehenden politischen Frage vorstellen.

Ausblick!
Lutherhaus, Wittenberg, 2015.
In Nigeria, den USA und Großbritannien spielen die mehr oder weniger parallelen Geschichten von Ifemelu und Obinze mit ihren vielen Tiefs und wenigen Hochs, immer wieder erweitert durch scharfsinnige und oftmals entlarvende Reflexionen zu Charaktertypen, soziokulturellen Phänomenen oder zur Mentalität von Migranten in der alten und der neuen Heimat.

Obinze ist durch einen alten Schulkameraden für kurze Zeit eingetaucht in die Welt der wohlhabenden Londoner Mittelschicht. Bei einem Abendessen kurz vor dem Termin seiner Scheinehe prallen die Meinungen beim Thema Migration aufeinander.
An das Ende dieses Kapitels stellt die Autorin eine Zusammenfassung aus Obinzes Sicht, die wohl auch ihrer eigenen entsprechen dürfte.
Dort heißt es, dass die weißen und wohlhabenden Gäste vielleicht "verstanden, dass man vor einem Krieg flüchtete, vor der Art Armut, die menschliche Seelen zerdrückte, aber sie würden das Bedürfnis, der bedrückenden Lethargie der Chancenlosigkeit zu entkommen, nie begreifen. Sie verstanden nicht, warum Menschen wie er, die gutgenährt und ohne Durst, aber eingemauert in Unzufriedenheit aufgewachsen waren, die von Geburt an dazu konditioniert waren, auf andere Orte zu blicken, und felsenfest davon überzeugt waren, dass das wahre Leben an diesen anderen Orten stattfand, dass diese Menschen jetzt entschlossen waren, gefährliche Dinge zu tun, illegale Dinge, um zu entkommen. Keiner von ihnen war unterernährt oder ein Vergewaltigungsopfer oder stammte aus einem niedergebrannten Dorf, sie waren einfach nur ausgehungert nach Wahlmöglichkeiten und Sicherheit."2

Das ist kein politisches Argument. Noch weniger eine Handlungsanleitung für Koalitionsgespräche.

Die Autorin hütet sich genauso, einseitige Schuldzuweisungen für diese komplexen Situationen auszusprechen (auch wenn Rassismus und Sexismus eindeutige Feindbilder des Romans sind).

Was sie jedoch fortwährend versucht, ist uns Bewohnern in den Zielländern der Migranten die Augen zu öffnen für deren Innenleben, für die Vielzahl an Motivationen und Schicksalen und für die Berechtigung ihrer Anliegen.
Denn diesen Sehnsüchten ihre Legitimität abzusprechen, hieße unmenschlich sein. Ihnen politisch klug und strategisch weitblickend zu begegnen, ist dagegen eine Generationenaufgabe.
Durch Zäune und Grenzpatrouillenie jedenfalls lässt hungrige Unzufriedenheit sich nicht austreiben, gegen Unzufriedenheit helfen nur Zufriedenheitsgründe.

Mehr Himmel über der Arbeit. Bremen, 2015.

1   Frankfurt a.M. 2016.

2   Ebd., 507f.