Nun, da die Flüchtlingspolitik der
Unionsparteien wieder zu einem deutschen Politikum wird und damit
eine wichtige Komponente in den kommenden Sondierungsgesprächen
darstellt, nun, da von "atmenden Deckeln" und "Asylzentren"
die Rede ist und die neuerliche Unterscheidung zwischen so genannten
"Wirtschaftsflüchtlingen" und Asylberechtigten über Wohl
und Wehe einer kommenden Regierungskoalition mitentscheidet, in
ebendiesem Moment lese ich den wunderbaren Roman "Americanah"
von Chimamanda Ngozi Adichie1
und möchte an dieser Stelle einen kurzen literarischen Einwurf zur
obenstehenden politischen Frage vorstellen.
Ausblick! Lutherhaus, Wittenberg, 2015. |
In Nigeria, den USA und Großbritannien
spielen die mehr oder weniger parallelen Geschichten von Ifemelu und
Obinze mit ihren vielen Tiefs und wenigen Hochs, immer wieder
erweitert durch scharfsinnige und oftmals entlarvende Reflexionen zu
Charaktertypen, soziokulturellen Phänomenen oder zur Mentalität von
Migranten in der alten und der neuen Heimat.
Obinze ist durch einen alten
Schulkameraden für kurze Zeit eingetaucht in die Welt der
wohlhabenden Londoner Mittelschicht. Bei einem Abendessen kurz vor
dem Termin seiner Scheinehe prallen die Meinungen beim Thema
Migration aufeinander.
An das Ende dieses Kapitels stellt die
Autorin eine Zusammenfassung aus Obinzes Sicht, die wohl auch ihrer
eigenen entsprechen dürfte.
Dort heißt es, dass die weißen und
wohlhabenden Gäste vielleicht "verstanden, dass man vor
einem Krieg flüchtete, vor der Art Armut, die menschliche Seelen
zerdrückte, aber sie würden das Bedürfnis, der bedrückenden
Lethargie der Chancenlosigkeit zu entkommen, nie begreifen. Sie
verstanden nicht, warum Menschen wie er, die gutgenährt und ohne
Durst, aber eingemauert in Unzufriedenheit aufgewachsen waren, die
von Geburt an dazu konditioniert waren, auf andere Orte zu blicken,
und felsenfest davon überzeugt waren, dass das wahre Leben an diesen
anderen Orten stattfand, dass diese Menschen jetzt entschlossen
waren, gefährliche Dinge zu tun, illegale Dinge, um zu entkommen.
Keiner von ihnen war unterernährt oder ein Vergewaltigungsopfer oder
stammte aus einem niedergebrannten Dorf, sie waren einfach nur
ausgehungert nach Wahlmöglichkeiten und Sicherheit."2
Das ist kein politisches Argument. Noch
weniger eine Handlungsanleitung für Koalitionsgespräche.
Die Autorin hütet sich genauso,
einseitige Schuldzuweisungen für diese komplexen Situationen
auszusprechen (auch wenn Rassismus und Sexismus eindeutige
Feindbilder des Romans sind).
Was sie jedoch fortwährend versucht,
ist uns Bewohnern in den Zielländern der Migranten die Augen zu
öffnen für deren Innenleben, für die Vielzahl an Motivationen und
Schicksalen und für die Berechtigung ihrer Anliegen.
Denn diesen Sehnsüchten ihre
Legitimität abzusprechen, hieße unmenschlich sein. Ihnen politisch
klug und strategisch weitblickend zu begegnen, ist dagegen eine
Generationenaufgabe.
Durch Zäune und Grenzpatrouillenie jedenfalls lässt hungrige Unzufriedenheit sich nicht austreiben, gegen Unzufriedenheit helfen nur Zufriedenheitsgründe.
Mehr Himmel über der Arbeit. Bremen, 2015. |
1 Frankfurt
a.M. 2016.