Freitag, 13. Oktober 2017

Was macht Christsein wirklich aus? Aufbruch in die Tiefe mit "Silence" von Martin Scorsese

Nun endlich bin ich dazu gekommen, mir den Film anzuschauen, den ich im letzten Jahr leider nicht mehr im Kino sehen konnte: "Silence" von Martin Scorsese.

Und ich kann ihn vorbehaltlos empfehlen – es ist ein faszinierender und mitreißender Film, ein Film, den man gesehen haben muss, wenn man sich mit dem Christentum, Fragen des Glaubens oder einfach nur mit dem Menschen, seinem Gewissen und seinen Überzeugungen beschäftigt.

Er reißt jedoch nicht in erster Linie mit wegen seiner Bilder (so wunderbar sie sind), sondern wegen der tiefgehenden religiösen und menschlichen Fragen, die er aufwirft: Was macht religiöses Leben aus? Wie weit gehen Menschen für ihre (religiösen) Überzeugungen? Wie reagiert eine (christliche) Gemeinschaft auf Glaubensabfall? Was bringt das Christentum indigenen Gesellschaften? Wie viel Barmherzigkeit ist möglich?

Christen vor verschlossenen Türen?
Neukölln, Berlin, 2017.
Besonders spannend ist die breite und lange Vorgeschichte des Films: Martin Scorsese wurde während der Kontroversen um seinen Film "Die letzte Versuchung Christi" von einem Bischof auf das Buch von Shusaku Endo "Schweigen" (Leseprobe hier) aufmerksam gemacht, in dem die an historische Ereignisse angelehnte Geschichte erzählt wird. Im Interview spricht er davon, dass er seitdem darüber nachdachte, wie er es verfilmen könnte. Nach dieser langen Vorlaufzeit wurde das Filmprojekt seit ca. 2012 energischer betrieben, so dass der Film nach seiner Premiere im Vatikan 2016 schließlich in die Kinos gelangen konnte.

Der Film spielt zur Zeit der gnadenlosen Christenverfolgungen in Japan ab Anfang des 17. Jahrhunderts. Zwei junge Jesuiten brechen 1638 aus Portugal auf, um ihren theologischen und geistlichen Mentor Ferreira (Liam Neeson) zu suchen, der verschollen ist und von dem das Gerücht umgeht, er sei unter dem Druck der Verfolgung vom Missionar zum Glaubensflüchtigen geworden. Auf geheimen Wegen kommen sie nach Japan und treffen kleine christliche Geeinschaften, die heimlich ihren Glauben praktizieren und in ständiger Angst vor der Verfolgung durch die staatlichen Behörden leben müssen. Der Film erzählt vornehmlich die Geschichte des einen der beiden Ordensmänner, P. Sebastião Rodrigues (Andrew Garfield), seine Gewissenszweifel, seine Ängste und Ideale, seinen äußeren und inneren Weg in Konflikt und Dialog sowohl mit dem japanischen Inquisitor als auch mit Gott und seinem Glauben.

Das Ende des Filmes kann man hier nicht vorwegnehmen ohne den Film um seine Spannung zu bringen.
Aber einige grundlegende Fragen, die sich aus dem Film ergeben, finde ich äußerst spannend.

1. Die Zeichen des Glaubens
Es ist eine Welt ohne Bibeln, ohne christliche Symbole, ohne Priester, ja fast ohne Glaubenswissen, in welche die beiden Europäer da eintreten. Trotzdem halten die japanischen Christen mit immenser Frömmigkeit und gegen den staatlichen Druck an der Botschaft fest, die ihnen die ersten Missionare gebracht haben. Was die beiden Jesuiten nun an christlichen Symbolen mitbringen, ist verboten und wird von den Einheimischen mit dementsprechend großer Ehrfurcht behandelt – Rosenkränze und Kreuze werden so sehr verehrt, dass sich einer der beiden schon sorgt, ob es wirklich der Glaube an Gott oder das Zeichen ist, das da im Mittelpunkt steht.
Die Bewunderung des unbeirrten Feststehens im christlichen Glauben bei gleichzeitiger Feststellung riesigen Unwissens auch über basale Glaubensinhalte verwirren die beiden und bringen sie zu unterschiedlichen Einschätzungen über ihre Aufgabe.
Mit dem Fortgang der Ereignisse entspinnt sich daran anschließend die urchristliche Frage nach dem Umgang mit diesen Zeichen. Denn als der Inquisitor mit Soldaten ins Dorf kommt, sollen einige der Bewohner zum Zeichen, dass sie keine Christen sind, auf eine Ikone treten. Während der Bedenkzeit spalten sich die Geister: Was ist einerseits schon so schlimm daran, auf ein Bild zu treten? Wie kann man andererseits auf der Darstellung des Retters herumtrampeln? 

Kreuzzeichen am Boden.
Herrsching am Ammersee, 2015.
Es geht um den symbolischen Akt, dessen Ziel den einfachen Dorfbewohnern intuitiv klar ist. Während einer der beiden Jesuiten ganz aufgeklärt und modern argumentiert, dass es nur Bilder sind und der Wert des Lebens über diesen Zeichen steht, wollen sich einige weigern, auch wenn sie das das Leben kosten würde.

Die Ernsthaftigkeit mit der diese Gewissensfragen vom Film bebildert werden, ziehen mich als europäischen Zuschauer des 21. Jahrhunderts mitten hinein in die eigene Auseinandersetzung mit dem Wert, den ich meinem Glauben zumesse. Hinein in das Nachdenken über meine Glaubensfestigkeit, wenn es hart auf hart kommt. Hinein in die Frage, welchen Wert ich den Symbolen des Glaubens zuweise. Hinein in die Zumutung der Frage, was Christsein wirklich bedeutet.

2. Vergebung
"Wie oft muss ich meinem Bruder vergeben?" fragt Petrus Jesus (Mt 18,21). Schon die Alte Kirche musste sich mit der Frage herumschlagen, ob man diejenigen, die aus Angst vor dem Tod und unter dem Druck der römischen Machthaber den Göttern geopfert oder christliche Kultgegenstände ausgeliefert haben, denn später wieder in die Gemeinschaft der Kirche aufnehmen kann. Nach langem Streit wurde hier ein umfangreicher Bußweg vorgeschrieben, an dessen Ende die Wiedereingliederung stand – der Preis war allerdings eine Kirchenspaltung, da nicht alle diese Möglichkeit für opportun hielten.1 
Das zeigte: Versöhnung ist nicht ein bloß formeller Akt, sondern bedarf eines langen Prozesses der Annäherung.
Im Film geschieht dasselbe: Ein japanischer Führer der beiden Jesuiten wird wieder und wieder schwach, verfehlt sich und verleugnet seinen Glauben, doch sein Wunsch nach Rückkehr zu Gott ist so groß, dass er immer wieder Vergebung erbittet. Der junge P. Rodrigues kämpft in diesen Momenten hart mit sich und seiner persönlichen Einschätzung des Gefallenen, erhofft aber weiter Gottes Erbarmen für ihn. Das ganze Dilemma wird deutlich, als dieser sich bitterlich über die Härte seines Lebens beschwert, da er doch ein so guter Christ gewesen sei, wenn er nur etwas früher gelebt hätte.
(Dieses Reflektieren auf die Gnade der Geburt zu einer besseren Zeit ist ja auch ein sehr deutsches Thema im Blick auf die eigene dunkle Geschichte.)
Ich selbst bin jedenfalls auch sehr froh, meinen Glauben nicht unter Verfolgung bekennen zu müssen. Die großen seelischen Nöte angesichts des Glaubensabfalls einzelner "Schwacher" bei gleichzeitiger Hinrichtung der Treuen können auch eine ungeheure Anfrage an die Vergebungsbereitschaft der Zuschauer darstellen.
Steht er oder fällt er?
Tannenbaum in Neukölln, Berlin, 2016.
Besteht das Christentum vielleicht nur darin, im Namen Gottes immer wieder und wieder zu vergeben?

3. Liebe oder Glauben
Auch später im Film bricht die Frage nach dem Wesen des Christseins in ihrer ganzen Tiefe wieder auf: Was macht den christlichen Glauben aus – das Beharren auf den Glaubensinhalten oder die Tat der selbstlosen Liebe, die sich an Jesus orientiert?
In der Konfrontation mit der ganzen Härte der staatlichen Ordnungsmacht wird diese Frage auf die Spitze getrieben: Nicht er selbst soll sterben, sondern einige Japaner leiden für den europäischen Ordensmann, und sollen so lange gefoltert werden, bis er selbst auf das Bild Jesu tritt und damit seinen Glauben verleugnet. Die einheimischen Gläubigen selbst haben zwar ihrem Glauben schon abgeschworen, aber den Machthabern ist das öffentliche Lossagen der Priester am wichtigsten. Denn hier läge die wahre Überzeugungskraft, dass es mit dem Christentum nicht weit her ist.
Die ganze Perfidie dieser Aufgabe fasst der Film in der Frage zusammen, was den leidenden Menschen in dieser Situation wirklich hilft – die Bekenntnisstärke dieses Einzelnen oder ein barmherziger Schritt zur Erlösung der Gequälten.
Die eigentliche Herausforderung scheint es dann zu sein, dass ein Gläubiger sich der Frage stellt, was sein Christsein im Letzten wirklich ausmacht, wenn kein anderer Ausweg mehr da ist als eine Wahl – Glaube oder Liebe.

Angesichts der Brutalität dieser Fragen, die einem bis in die Eingeweide dringen, muss doch, sage ich mir als Zuschauer irgendwann, ein göttlicher Trost zu finden sein.
Doch Gott schweigt nun einmal meistens. Eindeutigkeit und konkrete Wegweisung finden sich in diesem Film wie auch im Leben nur äußerst selten.

Und so kann Scorseses Film zum Hineintauchen in die tiefe Stille Gottes einladen und zur Auseinandersetzung mit den eigenen Lebensentscheidungen führen. Es ist ein Film voller Spannung und Intensität, zudem ein geistlicher Film durch und durch. Er spricht die innersten Schichten des Menschen an und lässt keine einfachen Antworten zu.

Viele Themen, die der Film anreißt, ließen sich noch erörtern, sei es die Kolonialgeschichte, die Frage der interreligiösen Begegnung oder den Kampf von Idealen und Enttäuschung.
Ich belasse es bei dem oben Gesagten und empfehle ihn eindringlich allen im Glauben unsicher Tastenden und allen Sicheren, aber auch all jenen, die nicht glauben.

Was alles zu Bruch gehen kann.
Schöneweide, Berlin, 2017.

1   Vgl. z.B. N. Brox, Kirchengeschichte des Altertums. 6. Aufl. Düsseldorf 1998, 57f: "Es war kurzfristig darüber zu entscheiden, ob die vielen, in der decischen Verfolgung schwach gewordenen Christen auf ihren dringenden Wunsch hin wieder in die Kirche aufgenommen werden konnten, also eine Bußmöglichkeit bekamen. Es ging dabei um ihre Heilschance. Die Meinungen darüber bei den Kirchenführern reichten von der Großzügigkeit der 'Bekenner', die kraft eigener Vollkommenheit die Abgefallenen (lapsi) ohne weiteres wieder aufnahmen, bis zur rigorosen Position, wonach es für die Unglücklichen keine Möglichkeit mehr gab als die, daß die Kirche sie dem Gericht Gottes überließ. ... Bischof Cyprian (gest. 258) in Karthago ... setzte sich ... mit dem Modus durch, daß in einem geregelten Bußverfahren, das allein in der Hand des von Gott mit entsprechender Vollmacht ausgestatteten Bischofs lag, die Rückkehr zur Kirche für die Abgefallenen möglich ist." Vgl. auch ebd., 127ff.