Dienstag, 3. Oktober 2017

Einheit der Deutschen und Einheit der Christen. Ein Denkanstoß

Als ich dieser Tage in der Ausstellung "Der Luthereffekt" im Berliner Martin-Gropius-Bau war und mich an den Spuren von "500 Jahre[n] Protestantismus in der Welt" erfreuen wollte, musste ich mich gleich zu Beginn sehr aufregen.
Im Lichthof des Museums befindet sich eine Raum-Klang-Installation des Künstlers Hans Peter Kuhn in Form einer sich windenden Doppelhelix, die für den Übergang vom Katholizismus zum Protestantismus stehen soll und eine ärgerlich simplifizierte Gegenüberstellung der Konfessionen betreibt. Im Begleittext heißt es nämlich, es sei eine "simple Metapher" gewählt worden:
"Die katholische Kirche ist die Mittlerin zwischen Mensch und Gott. Dadurch ergibt sich eine räumliche Einschränkung in der Vertikalen, eine Deckelung von oben. Dafür ist in der Breite Raum für lässliche Sünden. Der Protestantismus gewährt die direkte Beziehung zu Gott. Diese Öffnung in der Vertikalen geht jedoch einher mit einer Einengung in der Horizontalen, denn kleine Sünden sind nicht mehr erlaubt."1

Diese Art von intellektueller Schieflage im öffentlichen Raum eines Museums finde ich nun wirklich frech.

Schiefe Installationsansicht.
Martin-Gropius-Bau, Berlin, 2017.
Inhaltlich regt mich besonders auf, dass behauptet wird, die Katholische Kirche verstelle grundsätzlich (im Einzelnen mag darüber zu reden sein!) den Zugang zu Gott und jeder Mensch werde gehindert, abseits ihrer Heilsvermittlung zu Gott zu gelangen. Schon das eine Beispiel eines Zeitgenossen Luthers, des heiligen Ignatius von Loyola, zeigt ja, dass die je persönliche Gottesbeziehung, bei Ignatius vornehmlich in der Form persönlicher Gebetsübung in den Exerzitien zu finden, ein Wesenselement christlicher Frömmigkeit ausmacht.
Luther selbst ist als Kind seiner Zeit ja gerade kein spiritueller Solitair gewesen, sondern knüpfte an innerlich-individuelle Frömmigkeitsströmungen des Hochmittelalters an. "Das Geheimnis Luther liegt", wie Volker Leppin schreibt, "nicht im eruptiven Neuen, sondern in der Mischung aus Bestätigung von Vertrautem und eigenwilligen Akzentsetzungen".2

Abgesehen von diesen inhaltlichen Überlegungen stelle ich fest, dass die Aufnahme solch plumper Gegenüberstellungen in eine so zentrale Ausstellung es eben nicht ermöglicht, einander ökumenisch näher zu kommen, sondern die Gräben vertieft und betont.
Am Tag der deutschen Einheit wird mir dies besonders klar. Denn ehe 1989 die Mauer fallen und 1990 rechtlich die Einheit besiegelt werden konnte, waren Jahre und Jahrzehnte des Aufeinanderzugehens nötig gewesen. Willy Brandts Ostpolitik ist ein schönes Zeichen dafür, wie die Dämonisierung des Anderen langsam aufhören und an seine Stelle ein Austausch treten konnte, der die langsame Annäherung erlaubte.

Wenn wir heute nach 27 Jahren zurückschauen und sehen, dass aus der damals unmöglich erscheinenden Vorstellung, dass die Einheit Deutschlands bald erreicht sei, ein (bei allen Enttäuschungen und Fehlern) doch ein erfolgreiches Zusammenwachsen möglich war, dann brennt es mir doch unter den Nägeln, zu schauen, was das für die Ökumene bedeuten könnte.

Um den Titel dieses Posts recht zu verstehen: Es geht hier also nicht darum, dass die Einheit der Christen am deutschen Wesen genesen und nach dem Vorbild der Deutschen Einheit entstehen könnte. Stattdessen möchte ich aus beiden Richtungen Anregungen aufnehmen.

Zunächst: wie die beiden deutschen Staaten so erhoben auch die Kirchen "jeweils für sich in unterschiedlicher Weise den Anspruch [...], die eine christliche Wahrheit in der einzig angemessenen Weise zu verkünden",3 woraus eine erbitterte Konkurrenz entstand. Der Alleinvertretungsanspruch, je selbst für das deutsche Volk zu sprechen, verunmöglichte lange Zeit den politischen Dialog zwischen den beiden deutschen Staaten.
Auch in den Kirchen sind wir glücklicherweise inzwischen darüber hinweg und erkennen einander an.

Außerdem wäre darauf hinzuweisen, dass vor 27 Jahren Ausdauer und Dialog, Gebete und Mahnwachen, politischer Wille und lange Verhandlungen, dazu ein ungeheurer Leidensdruck und nicht zuletzt die Abstimmung der DDR-Bürger mit den Füßen am Ende dazu führten, dass wir heute wieder einen einzigen deutschen Staat bewohnen können.
Würde die Ökumene mit so viel Leidenschaft betrieben, wie damals das Zusammenwachsen Deutschlands, würde das die Menschen ebenso umtreiben, würde der Massenexodus aus den Kirchen die Kirchenoberen stärker motivieren und würde der tiefe Wille da sein, dann, ja dann wäre die Einheit der Kirche nicht mehr weit.

Inspiration.
Pinakothek der Moderne, München, 2015.
Nun sind die Kirchen immerhin so weit, dass sie sich nicht mehr dämonisieren. Sie sind, und das mag ein Vorteil gegenüber den politisch Verantwortlichen aus den beiden deutschen Staaten damals sein, im beständigen Dialog miteinander.

Und, noch viel wichtiger: "In der Ökumene verbindet sich die Besinnung auf die eigene konfessionelle Identität mit der Bereitschaft, sich wechselseitig anfragen und inspirieren zu lassen. Es ist dabei eine Herausforderung, die Stärken der verschiedenen anderen christlichen Traditionen wahrzunehmen und zu würdigen, aber auch in der Kritik konstruktiv zu bleiben."4

Möglicherweise würden sich viele "alte" Ostdeutsche wohler in diesem Staate fühlen, wenn diese Einsicht auch politisch gegolten hätte. Derzeit wird ja allenthalben gedeutelt, warum so viele Ostdeutsche die AfD gewählt haben und damit in größtmögliche Konfrontation zum bestehenden System gehen.

Dazu hätte allerdings nicht die Rechtsform der alten Bundesrepublik beibehalten werden können, sondern, wie ja auch überlegt worden war, ein neuer Staat hätte entstehen müssen.
Individuell wären im Nachhinein vor allem Wertschätzung und menschliche Gleichwertigkeit die echten Herausforderungen gewesen.
Für die Kirche wird beim "Voneinanderlernen" und "Sich-Anfragenlassen" die klare Konsequenz sein müssen, dass ein Eingliedern der Einen in die Anderen nicht reichen kann.

Denn politisch änderte sich für die Westdeutschen nicht viel – es war ja ihr Staat, der bestehen blieb. Die Folgen der vollständigen Entwertung und Delegitimierung der DDR gingen nur zulasten des Ostens, wobei dem Osten zugegebenermaßen auch große ökonomische Vorteile und Unterstützungen zuteil wurden. Doch um welchen langfristigen psychologischen Preis?

Die Kirchen sind also gut beraten, möglichst wenige Verlierer überzulassen, wenn sie sich weiter aneinander annähern. Auch wenn sich einige extreme Strömungen unter Umständen nicht einbinden lassen und nur eine unveränderte eigene Stellung zum Preis der Anpassung der anderen Seite gelten lassen wollen. Diese (bisweilen lauten) Minderheiten können nicht den gesamten Kurs bestimmen.

Und sie können noch viel an Leidenschaft und Gebet zulegen. Auch wenn Einheit sich noch nicht am Horizont abzeichnet, die Hoffnung steht aufrecht – und auf einen Zusammenbruch der Anderen kann in keiner Kirche jemand hoffen. Aber der persönliche Einsatz und das Zugehen aufeinander lohnt sich allemal, auch für uns "normale" Gläubige.
Denn auf dem Spiel steht das Erbe des Christlichen, die umfassende Versöhnung.

Kurs halten in Richtung Einheit!
Westhafenkanal, Berlin, 2016.

1   H.P. Kuhn, Übergang. Beiblatt zur Installation von 2017 im Martin-Gropius-Bau, Berlin.

2   V. Leppin, Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln. München 2016, 131.

3   V. Leppin / D. Sattler (Hg.), Reformation 1517-2017. Ökumenische Perspektiven. Freiburg i.Br. 2014, 51.


4   Ebd., 60.