Donnerstag, 19. Oktober 2017

Einmal Identität und einmal Berlin. Notizen zu "Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters"

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In den letzten Jahren hat sich in der literarischen Landschaft eine faszinierende Fraktion deutschsprachiger Autoren mit osteuropäischem Migrationshintergrund etabliert.
Saša Stanišić beispielsweise ist dem großen Publikum seit "Wie der Soldat das Grammophon repariert" ziemlich gut bekannt, aber auch die Bücher von Katja Petrowskaja ("Vielleicht Esther"), Alina Bronsky ("Baba Dunjas letzte Liebe") und Matthias Nawrat ("Die vielen Tode unseres Opa Jurek") haben ihre Wege zu den Lesern gefunden.

Hang am Sowjetischen Ehrenmal.
Treptower Park, Berlin, 2017.
In nicht wenigen der unter der Rubrik Roman verlegten Werke geht es um die literarisch verarbeitete Auseinandersetzung mit der eigenen Familie und ihrer Geschichte – und letztlich um die Frage nach Identität. Oft über den Umweg der Lebensgeschichten der älteren Generation(en) versuchen die AutorInnen, auch ihr eigenes Leben und Herkommen deutend zu greifen.
(In gewisser Weise zählen auch Sabine Rennefanz mit "Eisenkinder" und die unvermeidliche "Zonenkinder"Autorin Jana Hensel als aus dem Osten Deutschlands eingegliederte Autorinnen in diese Reihe.)

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So nun auch in Dimitrij Kapitelmans Buch „Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters“ von 2016.1 Der Weg vom ukrainischen Kiew über das sächsische Meerane und Leipzig nach Berlin wird für den heranwachsenden Dimitrij und seinen Vater Leonid (und natürlich auch für die restlichen, noch unsichtbareren weiblichen Familienmitglieder) zum Hineinreifen in ihr neues Leben im kapitalistischen Westen. Kapitelman schildert diesen Prozess von Verlust und Neubeginn am Beginn des Romans mit diversen humorvoll-ernst beobachteten Details wie die unverzichtbaren Kaufland-Sonderangebote, Autohäuser und örtlichen Neonazis. Insofern gleitet Kapitelman problemlos zwischen die ironisch bis grotesk anmutenden Erzählweisen von Stanisic und Nawrat.

Doch die jüdische Herkunft des Vaters führt hier noch weiter, denn sie wird für den nichtreligiösen Sohn zum Anlass, seinen ebenso nichtreligiösen Vater zu einer Reise nach Israel zu überreden.
Denn er hofft, dass sein unsichtbarer Vater "sich in Israel offenbart".2 Dieses intuitiv religiöse Sprachspiel wird natürlich eine Rolle spielen im biblischen Heiligen Land.
Doch dazu vielleicht an anderer Stelle später einmal mehr.

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Das Unsichtbarsein aus dem Titel umschreibt den Versuch des Vaters, sich als Jude und ex-sowjetischer Kontingentflüchtling aus allen Vereinnahmungen und Vorurteilen zu lösen und aufzulösen in die Unerkennbarkeit. "Sich aus allem raushalten"3 ist sein erklärtes Lebensmotto, das er auch seinem Sohn empfiehlt.
Für die Heimatsuche der nächsten Generation ist eine solche Prämisse natürlich untauglich, muss sich der junge Kapitelman doch integrieren, um sich einen Platz im deutschen Alltag zu erobern.
Das am Horizont immer wieder aufschimmernde Problem heißt: "Nicht wissend, wer ich bin,und nirgendwo zu Hause."4

Aus einer solchen, sehr europäisch anmutenden Perspektive finde ich die Frage nach der Integration der Flüchtlinge aus dem Nahen Osten noch einmal besonders spannend. Denn untertauchen und unsichtbar werden wäre für sie schon phänotypisch viel schwieriger.

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Während der einführenden Passagen erlaubt sich der Autor einen gelungenen Blick auf die zwischenzeitlich zu seinem Wohnsitz gewordene deutsche Hauptstadt Berlin.
Sehr treffend und zugleich ein exemplarisches Beispiel für die Sprachkraft des 1994 als Achtjähriger nach Deutschland Eingewanderten heißt es da, Berlin sei eine Stadt, in "der so viele Selbstdarsteller und Narzissten umherstolzieren, dass der Senat vielleicht bald beschließen muss, Spiegel statt Häuser in den Straßen zu bauen, um einer Revolte zuvorzukommen. In der ein Mann mit blutüberströmter Hand am Hermannplatz ignoriert wird und niemand seine Bitte um ein Blutung stillendes Taschentuch erhört. In der derlei Kaltherzigkeiten als hauptstädtische Abgebrühtheit verbucht werden ...
Dennoch ist diese Drecksstadt nach wie vor unwiderstehlich. Periodisch zumindest. ...
Heute kannst du ein Zebrakostüm in Friedrichshain anziehen, morgen als Anlageberater durch Mitte hochstapeln und am Sonntag gegen das transatlantische Wirtschaftsabkommen vor dem Kanzleramt protestieren. Was ich alles unterlassen habe, aber die theoretische Möglichkeit bestand. Sie besteht eigentlich immer und für alles in Berlin. Bergida war eine Totgeburt. NPD-Wähler wohnen höchstens in Ostköpenick, Lichtenberg und Hellersdorf. Okay, im Umland sprießen die braunen Wälder. Aber im trügerisch weltoffenen Kernberlin lässt sich das herrlich leicht ausblenden. Eine urbane Fata Morgana der fortschrittlichen Gesellschaft".5

Ich empfehle die Lektüre – des Buches, nur begrenzt die der Stadt.

Friedrichshainer Baudenkmal.
Friedrichshain, Berlin, 2016.


1   D. Kapitelman, Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters. München 2016.
2   Ebd., 7.
3   Ebd., 28.
4   Ebd., 13.
5   Ebd., 31.