Samstag, 22. April 2017

Thomas will noch was – Überlegungen zu religiöser Erziehung und Erfahrung

Irgendwann blieb seine religiöse Erziehung stecken – als Kind und etwas darüber hinaus war Thomas zwar begeistert mit dabei, aber dann fehlte ihm eine entscheidende Erfahrung, die einige andere gemacht hatten.
Er wusste selber nicht, was das sein könnte. Er spürte eben keine besondere Nähe mehr zu Gott oder zu Jesus.
Verabschiedete sich innerlich. Und war draußen.
Das war plötzlich alles nichts mehr für ihn, er glaubte nicht, dass es noch irgendetwas bringen würde, mit den Anderen rumzuhängen, wenn sie jetzt vielleicht noch in irgendeine blöde Schwärmerei fielen.

Ist er da oder weg oder was?
Friedhofskapelle Alter St.-Michaels-Friedhof,
Neukölln, Berlin, 2017.
Wie vielen kirchlich sozialisierten Jugendlichen geht das nicht so?
Als Kind in eine Gemeindegruppe integriert, schöne Geschichten von Jesus, nette Leute, vielleicht noch Ferienfahrten oder ein Einsatz als Ministrant – aber dann verliert das Ganze an Charme. Eigentlich unvermeidlich – die eigentlich spannende Frage ist, warum überhaupt noch jemand mitmacht.

Normalerweise sind die Thomasse in unseren Breiten in der Mehrzahl und der Normalfall – es sind Thomassen.
Was könnte Gemeinde, was könnten Christen jungen Menschen einer solchen Situation überhaupt bieten? Noch mehr Freizeiten? Noch mehr mitlaufen? Noch mehr nette Geschichten?
Das Kindsein fällt ab, genauso wie der Kinderglaube. Und an seine Stelle tritt: nichts.
Vielleicht kommt irgendwann ein wenig Nostalgie, wie es damals war. Aber nichts Substanzielles, nichts Neues.

Die übrigen Jünger haben laut dem Johannesevangelium (Joh 20,19-31) eine Erfahrung mit dem Auferstandenen gemacht, durch die sie neu Blut geleckt haben. Sie haben seinen Frieden gespürt. Sie haben das neue Leben geahnt. Sie fühlen, dass sie wieder ein Ziel, eine neue Sendung haben.
Thomas dagegen war nicht dabei und spürt all das nicht.

Aber er vermisst etwas. Dieser Thomas aus dem Evangelium will noch mehr.
Und vielleicht unterscheidet ihn dieser Wunsch nach dem Mehr von vielen Jugendlichen.
Oder es unterscheidet ihn wenigstens, wo er eine Antwort sucht – nämlich immer noch am alten Platz.
Oder es unterscheidet ihn, was er dort vorfindet, wo er sucht.

Denn zwei Dinge sind hier bemerkenswert:
Zum Einen hat der Apostel Thomas nicht nur eine religiös intensiv geprägte Vergangenheit, sondern vor allem eine Menge an Vorbildern und Freunden, die aus tiefstem Herzen in einer neuen Beziehung zu Jesus und seinem Gott stehen. Das ist heute nicht vielen Jugendlichen auf der Suche vergönnt; religiös inspirierende Vorbilder im persönlichen Nahumfeld sind eher die Ausnahme. Was Gemeinde und Kirche bieten müsste, wären also in erster Linie religiöse Menschen, die zum Zweifeln, zum Fragen und zum Widerspruch anregen.
Für Thomas waren diese Leute, die Jünger Jesu, sein Glück, hier konnte er andocken und bekam Input für den weiteren Weg, so dass er selbst eine religiöse Erfahrung machen konnte.

Und zum Anderen fragt er weiter und bleibt dran. Eine typisch religiöse Haltung übrigens, dieses Weiterfragen und Sich-nicht-Zufriedengeben. Viel verbreiteter sind bei uns jene Menschen, die der tschechische Theologe Tomáš Halík "Apatheisten" nennt: "An Gott denken sie nicht einmal in der Weise, dass sie seine Existenz leugnen würden. Die Apatheisten sind der Religion gegenüber apathisch, gleichgültig – und zwar nicht nur gegenüber den religiösen Antworten, sondern auch gegenüber den Fragen, die der Glaube stellt."1

Ist er das oder ist er das nicht?
St. Christophorus, Neukölln, Berlin, 2017.
Thomas aber fragt. Er zweifelt und ist gewillt, mehr herauszufinden.

Ein Blick in den Text sagt uns nun weiter, was Thomas denn sucht – und dazu außerdem, wen er findet und wen er nicht findet:
"Wenn ich nicht die Male der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in die Male der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht." (v25)

Die klassische Auslegung dieser Haltung ist: Thomas will prüfen und testen, anfassen und sich mit seinen Sinnen überzeugen. Ein Zweifler, der nach Beweisen lechzt: 'Kann dieses Auferstehungsgerede denn wahr sein, wo der Verstand doch völlig anderes sagt?'
Ähnlich fragemutig wurde der Apostel Thomas vom Evangelisten Johannes schon vorher gezeichnet, wenn er auf Jesu Aussage, dass die Jünger den Weg zum Vater schon kennen würden antwortet: "Herr, wir wissen nicht, wohin du gehst. Wie sollen wir dann den Weg kennen?" (Joh 14,5) Er ist anscheinend ein fordernder Typ, der klare Aussagen erwartet.
Jesus geht zwar auf diesen Thomas zu, doch er weist die Anspruchshaltung zurück: "Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben." (v29) Vielmehr soll ihm das Glaubenszeugnis der Anderen ausreichen.
Auch wir werden keinen beweisbaren Gott erfahren können.
Denn einen solchen findet auch Thomas nicht – die Auferstehung ist nicht beweisbar im naturwissenschaftlichen Sinne (wie Joachim Valentin vor kurzem noch einmal pointiert klarstellte), sondern kann als religiöse Erfahrung eine existenzielle Kraft entfalten.

Denn wen findet Thomas nun?
Er hat Glück – nicht seine Forderung, wohl aber seine Fragestellung führt ihn zum Auferstandenen: zu einem verwundeten Gott. Ein Gott mit Blessuren.
Thomas will Jesu Wunden prüfen – und Jesus zeigt ihm eben diese seine Wunden.
Er findet keinen abgehobenen Gott; keinen, der sich fernhielte vom Leid der Menschen. Kein ewiges Prinzip oder reine Weisheitslehre. Sondern einen durch die menschliche Geschichte Verwundeten.
Einen Gott, der sich als Liebender einbringt in die menschlichen Belange und als solcher so nah dran ist am Leben, dass ihn das Leben versehrt.

Vielleicht ist diese religiöse Erfahrung des Thomas auch für heutige Gottsucher, Jugendliche wie Erwachsene, ein gangbarer Weg. Denen, die sich schon fragend aufgemacht haben und suchen, wo Gott sie ansprechen könnte, denen zeigt Er sich als Verletzter. Nicht als Beweisbarer, sondern verletzt.
Verletzlichkeit als Eigenschaft Gottes, das klingt ungewohnt. Vielleicht ist es gar nicht das, was Menschen von Gott wollen. Aber so präsentiert er sich in Jesus Christus: Verwundet und in der Auferstehung verwandelt.

Auferstanden. Frisches Grün bei Naurod, 2017.

1   A. Grün, T. Halík, Gott los werden? Wenn Glaube und Unglaube sich umarmen. Münsterschwarzach 2016, 57.