Es ist ein langsam wachsendes Verstehen
dessen, was dieser auf der Berlinale 2016 mit dem Goldenen Bären
ausgezeichnete Dokumentarfilm möchte. In kommentarlosen Einstellungen schneidet "Fuocoamare" (deutscher Titel "Seefeuer")
von Gianfranco Rosi Szenen des alltäglichen Lebens auf der
italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa gegeneinander. Einerseits
sind da die eingesessenen Einwohner, porträtiert werden zumeist
Fischer, aber auch Rentner, ein Radiomoderator und ein Arzt – auf
der anderen Seite die Flüchtlinge, die über das Meer kommen und von
den Patrouillenbooten aufgefischt werden.
Zunächst sind es harmlose
und fast langweilige Szenen, die das Drama der Flüchtenden und ihrer
Retter zeigen. Passend dazu die braven Freizeitbeschäftigungen des
immer wieder dargestellten einheimischen Samuele: mit einem Freund
eine Steinschleuder bauen, Steine auf Pflanzen schießen, mit dem
Vater aufs Meer fahren.
Schatten des Weltgeschehens. Rixdorf, Berlin, 2017. |
Erst nach und nach fallen die
Parallelen zwischen dem Leben der Einheimischen und dem der
Flüchtlinge auf – und natürlich die beunruhigenden Kontraste. Im
Radion laufen auf telefonischen Wunsch gespielte Liebeslieder
zwischen den Meldungen über die umgekommenen Flüchtlinge. Dazu
gehört auch "Fuocoammare" über das Feuer auf See
während des längt vergangenen Zweiten Weltkrieges. Samuele wiederum
soll nach einer mit Übergeben verbrachten Ausfahrt seinen Magen
trainieren, um später als Fischer dem Wellengang standzuhalten.
Daneben werden die dehydrierten Flüchtlinge gezeigt, die aus den
unteren Etagen der Boote gezogen werden.
Der Arzt der Insel seinerseits ist
Allround-Mediziner und anfangs dabei zu sehen, wie er die noch
ungeborenen Zwillinge einer Flüchtlingsfrau mit dem
Ultraschall-Gerät untersucht – die werdenden Leben mit dem Gerät
korrekt zu erkennen, kostet ihn einige Mühe. Später schildert er
seine grauenhaften Aufgaben beim Obduzieren der auf Überfahrt
getöteten Flüchtlinge – die Alpträume angesichts des genommenen
Lebens beschäftigen ihn sichtlich.
Ein paar Filmminuten danach wierderum
untersucht er das linke Auge des zwölfjährigen Samuele. Er
bezeichnet es als ein träges Auge, das trainiert werden muss. Um
dies zu erreichen, klebt er das gesunde Auge ab, das andere bekommt
Unterstützung durch eine Brille.
Die Aussage über das Training für das
träge Auge scheint mir die Intention des Films auf den Punkt zu
bringen: Um die Gänze der Wirklichkeit wahrzunehmen, müssen wir die
Trägheit unserer Wahrnehmung überwinden, damit wir das Unheil der
Welt wenigstens nicht fortwährend aus dem mit unseren alltäglichen
Sorgen so überfrachteten Leben ausblenden.
Verschiedene Wirklichkeitsebenen stehen oftmals mehr oder weniger verbunden nebeneinander.
Die Inselbewohner auf Lampedusa sind im
Film nur das exemplarische Anschauungspersonal für diese zentrale
Aussage, da ihr Leben geographisch so eng mit dem der Flüchtenden
verknüpft ist. Doch auch unser aller Leben steht in vielfältiger
engster Verbindung mit den menschlichen Tragödien unserer Zeit und
ihren politischen Wurzeln, ob wir es nun wahrhaben wollen oder nicht.
Noch etwas tiefer geht die Aussage des
Films, wenn wir ihn auf die biblischen Auferstehungsberichte
beziehen. Wie bei den ersten Jüngern ist auch unsere Wahrnehmung oft
auf das Gewohnte, den Alltag, den bekannten Nahbereich und das
Erwartete gerichtet. Unser religiöses Auge, das auch die andere
Seite der Welt wahrnimmt, mit dem wir Tod und Rettung, Heil und
Unheil erkennen können, müssen wir immer wieder trainieren.
Wenn wir das Leben nicht mehr als
Gottesgeschenk und die Lebensgefahr unserer Mitmenschen nicht mehr
als Anspruch an uns wahrnehmen, dann wird uns wohl auch das Leben des
Auferstandenen nichts sagen.
Glaube beschränkt das Leben nicht auf
eine eindimensionale Ebene, sondern fordert unsere Trägheit heraus.
Leiden und Auferstehung Jesu können wir auch in Leiden und Rettung
unserer Mitmenschen erkennen, wenn wir unsere trägen Augen
trainieren.
Feuer ohne Meer. Grünheide, 2017. |