Die Ausgangslage dieses aktuellen
"Luther-Romans"1
ist vielversprechend – der katholische Landsknecht Burkhard muss
den "Ketzer" Martin Luther im Auftrag des Kurfürsten
vor allen möglichen Feinden schützen. Im Wechsel von Ich-Erzählung
dieses Beschützers und Briefen Luthers an diverse Gefolgsleute tritt
das Jahr 1521/22 auf der Wartburg in das wechselnde Licht zweier
gegensätzlicher Perspektiven.
Aufgang in die Höhen. Melanchthonhaus, Wittenberg, 2015. |
Und dieses Licht ist, um es klar zu
sagen, meistenteils erzählerisch äußerst anstrengend. Denn der
Autor Feridun Zaimoglu entwirft mithilfe der äußerst
bildreich-blumigen und deftigen Sprache seiner Protagonisten eher ein
Sittenbild der damaligen Zeit, als dass er eine Geschichte erzählt.
Das ist expressiv und oft genug äußerst lustig, kann aber nicht
darüber hinwegtäuschen: über mindestens drei Viertel des Buches
geschieht eigentlich nichts, was die Handlung voranbringt.
Es gibt einige exemplarische
Auseinandersetzungen über den Teufel und seine Machenschaften,
exzessiv wird der Aberglaube der einfachen Leute ausgebreitet, dann
reitet man mal aus zur Jagd, ein andermal verrät Luther durch seine
Bibelfestigeit fast seine Tarnung als Junker, ständig sind Knechte
rauhbeinig und Mägde abergläubisch.
Aber es passiert eben nichts
Entscheidendes. Die Bibelübersetzung wird mehrfach angedeutet. Das mag zwar den tatsächlichen Gegebenheiten während
Luthers Wartezeit nahekommen, es ermüdet aber beim Lesen ungeheuer.
Auch bei den Szenen, in denen sich dann
doch mal etwas ereignet, wie beim Wirtshausbesuch, zeigt sich wenig
von beschreibender Kraft, vielmehr glänzt fast alles in den inneren
Monologen des Landsknechts, die zwar bildhaft sind, aber eben nicht
helfen, ein Bild der Szenerie vor dem geistigen Auge entstehen zu
lassen.
Aber, und das ist nun eindeutig die
große Stärke des Buches, der Charakter Luthers wird breit
aufgefächert – wenngleich ihn das nicht in besonders freundlichem Licht
dastehen lässt. Denn er steht da als einer, der zunächst einmal
ganz in mittelalterlichem Hexenhass und Teufelsängsten steht:
"Weiber, die Wetter machen, verbrennen muss man sie als
Teufelshuren, denn sie melken Milch auch aus dem Axtgriff, aus der
Schürze, aus dem Holz, Heilung und Bannung durch Feuer ist
rechtens."2
Dieses Wüten gegen alle, die ihm entgegenstehen, durchzieht das
ganze Buch und Luthers Flüche gegen jedermann sind dabei wirklich
eindrucksvoll: "Papst, das ist der Gaunername der Diebsbuben,
Papst ist Jud und Türck an Tücke überlegen, die Kirche frisst, der
Teufel reibt sich den vollen Magen. ... Der Papst ist dem
Teufel angelobt und angetraut."3
Aus vielen grausligen Schilderungen
(wie zum Beispiel eine Hinrichtung und das Gieren der Umstehenden
nach Teilen des Leichnams) und angesichts der teufelsgläubig-brutalen
Denkungsart lässt sich jedoch nur spätmittelalterliches Dunkel
erahnen (die Welt als apokalyptische "Knochenmühle") – nicht aber der Beginn des Neuen: der Aufzug neuer
innerlicher Frömmigkeit, nicht der aufklärerisch-gelehrte
Humanismus eines Erasmus, nicht die Jesusfreundschaft einer Teresa
von Avila oder die Liebesmytik eines Ignatius von Loyola, die Luthers
Zeitgenossen waren. Zaimoglus Roman lässt uns weitestgehend nur die
Verwesung der Religion riechen, von der sein Luther sich nur graduell
zu unterscheiden scheint.
Das ist gruselig, wenn Luther über Juden und Muslime herzieht oder geht ins Absurde, etwa wenn
seine teufelsgläubige Strenge aufs Korn genommen wird, wenn er
einen Bauern verhört und sich der Landsknecht seinen Teil denkt: "Er
ward verworfen von Kaiser und hohen Pfaffen, er ist versperrt und
verschlossen auf der Warte, doch geht er der Rotte voran, als müsste
er jedem Weibe sieben Teufel austreiben."4
Doch bei aller Schwärze und
Körpersprachlichkeit wird doch Luthers Intention einer christlichen
Erneuerung immer wieder klar herausgestellt. Luthers Anhänger
argumentieren im Roman: "Er betet keine Gebeine an, keine
Sackbündel in Kleidern, kein bemaltes Holz, keine bemalte Wand. Im
Anfang war das Wort und Luther spricht es nach."5
Dagegen fragt sich der Luther
schützende Katholik: "Das Allerheiligste ist das
Allerheimlichste. Frevelt er, wenn er Gott übersetzt?"6
Solche kurzen pointierten Sentenzen scheinen mir die zeitgenössischen
theologischen Fragen in ihrer volkstümlichen Form zu treffen. Hier
leuchtet das Sittenpanorama des Luther-Romans als gut konturiertes
religiöses Porträt seiner Zeit.
Auch andere theologisch breitgetretene
Meinungen fasst der Autor in ihrer Essenz kurz und präzis, so etwa,
wenn Reformator und Landsknecht sich geißelnde Wandermönche
beurteilen:
"'Sie
fetzen sich umsonst. Keiner kann durch Wund und Striemen Gottes Gnad
erpressen.' - 'Der Heiland hat's vermocht.' - 'Das hat er', sagt er
leis, 'weil Vater unser ihn hat geliebt.''"7
Kurz und eindrücklich ist geklärt:
Liebe erlöst, nicht Leiden.
Blick ins Licht. Kapelle nebenan. Wittenberg, 2015. |
Der Landsknecht Burkhard erscheint in
solchen Gesprächen reflektiert wie keiner außer Luther selbst.
Seine inneren Fragen und wundersamen Tiefsinnigkeiten oder kritischen
Einwürfe wirken zwar nicht immer realistisch und seinem
wahrscheinlichen Bildungsstand angemessen, aber durch die Dialoge
bekommt der Leser einen Eindruck von den religiösen Grenzziehungen.
Differenziert wird ausgebreitet, dass
auch der Katholik nicht kritiklos jede alte Frömmigkeit oder den von
der hierarchischen Kirche vor Ort unterstützten Aberglauben
gutheißen musste und Raum für kritisches Nachfragen blieb. Dass
aber andererseits auch Luther nicht notwendig in allem irrte, nur
weil die Kirche seiner Zeit anders agierte: "Dass mich die
Römlinge verketzern, macht mich nicht zum Götzenholz."8
Auf diese Weise nimmt Zaimoglu die
ökumenischen Annäherungen späterer Jahrhunderte erzählerisch
vorweg, was verstärkt wird durch die fiktive Rettung Luthers durch
den katholischen Burkhard in Wittenberg, als er ihn ausgerechnet vor
dem Anschlag eines der reformatorischen Bilderstürmer bewahrt.
Diese inneren Auseinandersetzungen der
Reformatoren prägen den handlungsstärkeren Schlussteil des Buches,
wenn sich zeigt, wie unbeugsam dieser Luther auch gegen die eigenen
Mitstreiter war – und vielleicht sein musste, um so wirkmächtig zu
werden, wie er nun einmal war. Die vielen echten oder imaginierten
Feinde, über die er herzieht und auch die Gründe für seine
mannigfachen Abneigungen haben es ihm sicher nicht immer leichter
gemacht, seine Botschaft vom durch Glauben gerecht machenden Gott zu
verkünden – sei es seine Wut auf die dummen Bauern, die er mit
Gewalt züchtigen will, sei es die gehasste Reliquiensammlung des ihn
beschützenden Kurfürsten oder sei es der jüdische Arzt, dem er
Pfuscherei unterstellt und die Heilsmöglichkeit abspricht.
Der Roman zeigt also einen überwiegend
wütenden und nur selten klarsichtigen Luther. Ob ihm dies gerecht
wird, mögen andere entscheiden, seine (mir bekannten) Briefe und
Traktate jedenfalls lassen ahnen, zu welchen Ausbrüchen er fähig
war. Wohltuend an Zaimoglus Buch ist, dass es keine lutherische
Heiligenbiographie geworden ist, auch wenn des Landknecht (und der
Autor) augenscheinlich eine Reihe überzeugender Punkte in Luthers
neuer Verkündigung Christi finden.
Und in alle Leseanstrengung hinein
fallen immer wieder einzelne Leitsätze, die es bei aller Beschwernis
doch zu einer anregenden und weiterführenden Lektüre machen:
"Eine versinkende Welt schauen
wir, die wir fern von Rom und nah beim Kreuz sind."9
Bespritzt, aber nutzbar. Fenster auf dem Marktplatz. Wittenberg, 2015. |
1 F.
Zaimoglu, Evangelio. Ein Luther-Roman. Köln 2017.
2 Ebd.,
46.
3 Ebd.,
155.
4 Ebd.,
192.
5 Ebd.,
114.
6 Ebd.,
11.
7 Ebd.,
152.
8 Ebd.,
45.
9 Ebd.,
267.