Vor Pfingsten ruft die Kirche nach dem
Heiligen Geist. Der aber weht bekanntlich nicht nur in den Mauern der
Kirche und zeigt sich bevorzugt dort, wo Menschen einander zugewandt
sind und sich besonders gegenüber den Bedürftigen öffnen.
Daran musste ich denken, als ich vor
kurzem den neuen Roman von Jamie Attenberg, "Saint Mazie",
las. Attenberg greift die Lebensgeschichte der New Yorkerin Mazie
Phillips-Gordon auf und erzählt, aus verschiedenen Sichtweisen wie
eine Reportage zusammengesetzt, deren Leben vor allem in den 1920er
Jahren. Hauptsächliche Erzählperspektive ist das fiktive Tagebuch,
aber es kommt neben sich erinnernden Bekannten auch die historische
echte Mazie in nachgelassenen autobiographischen Fragmenten zu Wort.
Auf diese Weise entspannt sich nach und
nach ein Leben, dass in seinen Suchbewegungen und dem Einsatz für
die obdachlosen Opfer der Wirtschaftskrise, aber auch in den
spirituellen Andockversuchen bisweilen an Simone Weil oder Dorothy
Day erinnert.
Einfahrt zum Hof. Rixdorf, Berlin, 2016. |
Denn Mazie ist ein Freigeist; sie zieht
schon als Jugendliche am liebsten durch die Straßen und genießt
ihre Freiheit. Sehr undamenhaft raucht und trinkt sie, sucht sich ab
und zu einen Mann, bleibt aber zeitlebens unverheiratet. Gleich zu
Beginn lässt die Autorin sie programmatisch sagen:
"Noch nie in meinem Leben habe
ich von meinem Hochzeitstag geträumt, kein weißes Kleid, kein
gottverdammter Diamantring. Ich habe immer nur von Freiheit geträumt.
Meine Liebe gilt den Straßen dieser Stadt."1
Dass das nur zur Hälfte stimmt, wird
im Verlauf des Romans klar, denn trotz ihrer Abgebrühtheit sehnt
sich Mazie nach einer bleibenden Liebe. Die aber ist für die
selbstbewusste und kritische Frau, die sie ist, gerade zu ihrer Zeit
schwer zu finden. Trotzdem ist sie nicht Herrin über ihre
Lebensumstände, sondern lebt mit ihren beiden Schwestern Jeanie und
Rosie und Rosies Mann Louis zusammen.
Der ist ein sympathischer, aber eher
undurchsichtiger Geschäftemacher und besitzt unter anderem ein Kino,
an dessen Kasse Rosie ihre Schwester zur Unterstützung im
Familienbetrieb unterbingt.
Mazies Protest spricht Bände:
"Das ist eine Zelle, und du
weißt es. Du steckst mich ins Gefängnis. ... Ich werde alles
verpassen. Die Welt wird an mir vorüberziehen. Ich werde alt und
sterbe dann in dieser Zelle."2
Tatsächlich wird diese Kasse über
Jahrzehnte ihr Ort. Während die jüngere Jeanie sich irgendwann als
Tänzerin aus dem Staub macht, bleibt Mazie solidarisch mit Rosie und
verantwortungsbewusst in ihrem kleinen Gefängnis – und steht doch
mitten im Leben.
Denn dort trifft sie nicht nur den
Querschnitt der Bevölkerung, wird angebettelt und flirtet ironisch
mit dem lokalen Polizisten, sondern lernt auch eine Ordensschwester
kennen, die zwar Teresa heißt, wegen der Menge der Teresas in ihrem
Orden aber nur Te genannt wird.
Schwester Te erwartet nicht nur Mazies
Hilfe für die Armen, sondern versucht auch auf vergleichsweise
sanfte Art, sie zu bekehren. Unter anderem erzählt sie ihr von den
Heiligen.
Das inspiriert Mazie zur etwas freieren
Assoziation:
"Ich will für alles eine
Heilige haben. Die Heilige des Freien Geistes. Die Heilige der
Tanzenden Narren. Die Heilige des Meeres. Die Heilige des Himmels.
Die Heilige des Mondes. Die Heilige der Liebenden. Ich will mich
beschützt und sicher fühlen, aber nur aus der Ferne. Ich denke gern
daran, dass die ganzen Heiligen auf mich schauen. Sie sind oben, ich
bin unten.
Ich weiß, es gibt sie nicht. Ich
bin nicht dumm. Es ist bloß so angenehm etwas zum Träumen zu haben,
hier in meiner Zelle."3
Diese innere Distanz wird ihr lange
erhalten bleiben. Doch findet sie im christlichen Zeugnis der
Ordensfrau auch einen Halt, der tiefer geht als bloße Bekanntschaft.
Nach und nach beginnt sie, sich
einzusetzen für die gestrandeten Existenzen, die vor allem im
Gefolge der Wirtschaftskrise auf der Straße gelandet sind. Geld und
Lebensmittel und Kleidung verteilt sie, ruft im Notfall einen
Krankenwagen und findet unter den Männern auf der Straße
schließlich eine Art zweiter Familie.
Müllkulisse. Weserstraße, Neukölln, Berlin, 2016. |
Nach dem Tod von Louis resümiert Mazie
abends dankbar die Kondolenzbesuche an der Kinokasse: "Diese
Leute sind heute morgen aufgestanden und haben sich vorgenommen,
menschliche Wesen zu sein. Nicht jeder weiß, wie das geht. Kein
Geschmeiß, meine Leute. Echte menschliche Wesen."
Der religiöse Trost von Schwester Te
dagegen sagte ihr nichts: "Ich brauchte aber keine Heiligen,
jedenfalls heute nicht. Ich hatte alle aus der Park Row bei mir."4
Innerlich wächst sie selbst weiter in
ihrem selbstlosen Engagement für die Menschen von der Straße, so
sehr, dass einer, der später ihr Tagebuch auf der Straße findet,
beindruckt zu Protokoll gibt: "Ich wusste nichts über sie,
nur dass sie wie eine Heilige klang, jedenfalls eher als alles, was
ich sonst so kannte."5
Dass Mazie am Allerheiligentag
Geburtstag hat, ist da nur das i-Tüpfelchen an vielerlei kleinen
Hinweisen, die die Autorin zusammenwebt zum Bild einer Heiligen
außerhalb der Kirche, die als glaubenslos erzogene Jüdin den
christlichen Geist atmet wie nur wenige Christen. (Nur am Rande wird
erwähnt, dass sie in den Dreißigern wohl beginnt, regelmäßig die
Messe zu besuchen.)
Zwar steht Mazie immer in der doppelten
Verantwortung, sich zunehmend um ihre Schwester kümmern zu müssen
und zugleich den Kinobetrieb aufrecht zu erhalten, doch wo sie nur
kann, geht sie zusätzlich noch auf die Straßen und ist bei den
Armen.
Von Rosies Bedürfnissen lässt sie
sich zwar wieder und wieder in Beschlag nehmen, kann ihr aber auf das
Jammern über verschiedene Nachbarn nur erwidern: "Wir sind
nichts Besseres."6
Diese zunehmende mentale Nivellierung
des eigenen sozialen Standes zugunsten derer, denen es nicht so gut
geht wie ihr, ist eine beeindruckende innere Entwicklungsgeschichte.
Denn trotzdem der Roman über weite
Teile nur recht durchschnittlich aus den verschiedenen Blickwinkeln
zusammengefügt ist und erst langsam an Fahrt gewinnt, überzeugt er
doch in der Darstellung der inneren Spannung zwischen der eigenen
Freiheitssehnsucht und dem gleichzeitigen Hineingehen in die Enge der
Arbeitswelt, zwischen dem Einsatz für die Familie und dem für die
Bedürftigen, zwischen der Einsamkeit und der nur punktuell
erfahrenen Liebe.
Diese Liebessehnsucht führt sie aber
nicht in Resignation und Zynismus, sondern hinzu den Menschen.
Gegen Ende zitiert Attenberg einen
ausführlichen Abschnitt aus dem originalen Lebenszeugnis von Mazie
Phillips, das es in sich hat:
"Was mich umbringt an diesen
Stadtstreichern ist, dass sie sterben, sie sind fort, und dann ist
es, als hätte es sie nie gegeben auf Gottes grüner Erde. Früher
hat sie jemand gekannt. Eine Mutter, ein Vater, ein Arzt, ein
Kamerad, irgendwer hat sie beim Namen gekannt. Inzwischen kennen sie
nur noch einander, und dann, nach und nach, sind sie vergessen.
Schneller wahrscheinlich, als ihnen lieb wäre. Jeder will doch, dass
man sich an ihn erinnert, oder? Jeder will, dass ein kleines Stück
von ihm bleibt. Tja, ich erinnere mich an sie. Ich erinnere mich an
jeden. Fast überall waren sie ein Niemand, aber für mich waren sie
wer. Ich kannte sie beim Namen. Alle beim Namen. Ich kannte sie."7
Das ist sprachlich ganz nah an der
Bibel (vgl. Jes 43,1; Jes 49,15) und fast schon eine
Gottesperspektive, die Mazie da aufreißt. Die Vergessenen der Welt
(bzw. von New York), an Mazies Herzen sind sie geborgen, auch wenn
die ihr Leben lang in einer Zelle sitzen muss.
Denn darum geht es auch Christen, wenn
sie um den Heiligen Geist beten – dass Gott sie nicht vergessen
möge. Und wir erhalten diesen Geist, um einander nicht ins Vergessen
fallen zu lassen. Auch dies ist ein Werk der Barmherzigkeit, das wir
im Geist Gottes tun können.
Ecke an der ul. Panska, Warschau, 2015. |
1 J.
Attenberg, Saint Mazie. Frankfurt a.M. 2016, 37f.
2 Ebd.,
50.
3 Ebd.,
195.
4 Ebd.,
230.
5 Ebd.,
249.
6 Ebd.,
303.