Dienstag, 1. November 2016

Alle Heiligen ehren – und über Simone Weil stolpern

Entgegen landläufiger Meinung ist Heiligkeit keine menschliche Leistung, sondern ein Anteil an der Heiligkeit dessen, der allein heilig ist. Es ist ein Abglanz von Gottes Heiligkeit.

Nach katholischem Verständnis gehören zu den als Heiligen verehrten Menschen insbesondere jene, die Jesus zu seinen Lebzeiten berufen und in besonderer Weise gesandt hat, also die Apostel, jene, die ihr Leben für Christus gegeben haben, also die Märtyrer, jene, "die Christi Jungfräulichkeit und Armut entschiedener nachgeahmt haben"1 und damit ein heiligmäßig vorbildliches Leben führten. Deshalb müssen für eine Heiligsprechung Erhebungen "über das Leben, über die Tugenden oder das Martyrium und den Ruf der Heiligkeit bzw. des Martyriums, über behauptete Wunder sowie gegebenenfalls über eine althergebrachte Verehrung"2 angestellt werden.
Im Hintergrund steht die Überzeugung, dass Gottes Geist sich im Leben dieser Menschen besonders sichtbar geworden ist, in ihrem Leben, sagt das Konzil, "zeigt Gott den Menschen in lebendiger Weise seine Gegenwart und sein Antlitz."3

Strahlen vor verschlossenen Türen. Neukölln, Berlin, 2016.
Nun kann das aber durchaus auch bei Menschen der Fall sein, die keine Christen sind. Gottes Geist weht auch in ihnen, nur werden sie nicht als Heilige verehrt.

Wenn ich das schreibe, habe ich gerade Simone Weil vor Augen. Sie, geboren 1909 in eine jüdische Familie und aufgewachsen ohne religiöse Bildung oder Bindung, hat sich im Laufe ihres 34jährigen Lebens immer stärker der Religion und speziell dem Christentum angenähert – ohne allerdings um die Taufe zu bitten.
Und dies mit Absicht, denn sie sah sich von Gott dazu berufen, "auf der Schwelle der Kirche, ohne mich zu rühren, unbeweglich"4 zu verharren. Ihre Position in der geistigen Welt sah sie dort, wo sie schon stand, "an jenem Schnittpunkt des Christentums mit allem, was es nicht ist."5 Sie bewunderte die Liturgie und genoss die Teilnahme an der Messe, sie sprach über lange Zeit hinweg vielfach täglich das Vaterunser und stand in regem Kontakt mit diversen geistlichen Begleitern, Ordensleuten, katholischen Eheleuten. Und doch schreibt sie von sich, trotz all dieser Nähe und "im Licht des inneren Glanzes, der nach der Messe in der Seele zurückbleibt, so habe ich doch niemals auch nur ein einziges Mal, und sei es nur eine Sekunde lang, das Gefühl gehabt, daß Gott mich in der Kirche will."6

Der Ausgangspunkt des bemerkenswerten Weges dieser bemerkenswerten Frau ist die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Solidarität mit den Arbeitern. Als Lehrerin und Philosophin arbeitet sie in der Fabrik und in den Weinbergen, um das Leben der Arbeiter und Bauern zu kennen und zu teilen. Ihr Herz schlägt für den Frieden und sie ist eifrige Pazifistin, was sie aber im Ernstfall nicht hinderte, im Spanischen Bürgerkrieg und im Zweiten Weltkrieg aktiv Partei zu ergreifen für die von ihr als gerecht erkannte Sache. Sie sucht immerfort die Armut, die Reinheit, die Wahrheit. Dafür überschreitet sie die Grenzen zwischen Männern und Frauen, zwischen Gebildeten und Ungebildeten, zwischen dem ihr durch Familienbande zugewiesenen Judentum und den Christen. Spät erst liest sie mystische Schriften der Weltreligionen und fand ihre eigenen Erfahrungen darin wieder.

Pforte der Barmherzigkeit heute geschlossen.
St. Paulus, Moabit, Berlin, 2016.
Ihre Suche nach Wahrheit war stärker als der Wunsch nach persönlichem Wohlergehen – und in all dem schließlich wurde aus ihr eine Mystikerin, die in der Aufmerksamkeit für die einzelnen, die unterdrückten und marginalisierten Ränder der Welt Gott selbst fand.
Und sie fand die Wahrheit dieses Gottes in der Botschaft Jesu.

Doch, und damit komme ich zu einem entscheidenden Punkt, sie konnte sich nicht entscheiden, dieser Kirche beizutreten, zum Teil aus den oben beschriebenen grundsätzlichen Erwägungen, zum Teil aber auch, weil sie in der Kirche ihrer Zeit eine totalitäre Institution sah, die außerhalb ihrer Grenzen die Wahrheit Gottes nur sehr schwer erkennen konnte.
Sie schreibt von der Verhinderung des vollständigen "Inkarnation des Christentums": "Dies ist der Gebrauch der beiden kleinen Wörter anathema sit. ... Ich bleibe auf seiten aller Dinge die nicht in die Kirche eintreten können, die in die Kirche, dieses universale Haus der Aufnahme, keine Aufnahme finden können, auf Grund dieser beiden kleinen Wörter."7

Eine Person, die an Christus glaubt, die Christus nachfolgt in der Kenosis, in der Solidarität mit den Ausgegrenzten, in der Liebe zur Wahrheit, in der Armut, im Einsatz für den Frieden. Eine Person, die das Vaterunser so lange spricht, "bis ich ein Mal eine völlig reine Aufmerksamkeit erreicht habe".8

Eine solche Person, die viele ihrer Zeitgenossen für eine Heilige hielten, eine verrückte Heilige vielleicht, eine mit Ecken und Kanten, mit Maßlosigkeiten und Einseitigkeiten, aber welcher Heilige hatte die nicht...?

Und eine solche Person steht außerhalb der Gemeinschaft der Kirche.
Sie ist keine von all den Heiligen, die verehrt werden.

Ich finde es traurig, dass in unserer Welt, in unserer Kirche, diese Art von Gemeinschaft auf Erden nicht bestehen, nicht wachsen kann. Dass durch unsere Schuld Menschen am Leben mit der Kirche und oft genug am Leben mit Gott gehindert werden. Dass wir als Kirche manche Heiligen lieber draußen stehen lassen, auch wenn in ihrem Leben das Leben Gottes sichtbar wird. 

Oder wird Gottes Leben gerade darum sichtbar, weil solche Heiligen vor den Toren stehen, wie Christus, der vor den Toren der Stadt starb...? 

Vor den Mauern der Kirche. St. Peter und Paul, Marburg, 2015.
1   Lumen Gentium 50. In: K. Rahner, H. Vorgrimler (Hgg.), Kleines Konzilskompendium. 28. Aufl. Freiburg i.Br., Basel, Wien 2000.
2   Johannes Paul II., Apostolische Konstitution "Divinus Perfectionis Magister" über die Durchführung von Kanonisationsverfahren. Vatikan 1983. Quelle: https://w2.vatican.va/content/john-paul-ii/de/apost_constitutions/documents/hf_jp-ii_apc_25011983_divinus-perfectionis-magister.html. Aktualisiert in "Sanctorum Mater" von 2007, das sich in diesen Fragen durchgehend auf das obige Dokument bezieht: http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/csaints/documents/rc_con_csaints_doc_20070517_sanctorum-mater_en.html.
3   Lumen Gentium 50. In: a.a.O.
4   Brief an Pater Perrin, im Mai 1942. In: Simone Weil, Zeugnis für das Gute. Traktate, Briefe, Aufzeichnungen. (Hg. v. F. Kemp) München 1990, 99.
5   Ebd.
6   Ebd., 98.
7   Ebd., 100.
8   Ebd., 95.