Freitag, 19. Mai 2017

Sehnsucht und Individualität – Thomas Frings' Gedanken zu Entscheidungsgemeinden

Seinen Krisendiagosen schickt der ehemalige Münsteraner Pfarrer einige Ideen hinterher, die ich einigermaßen einleuchtend finde. 
Darum seien sie hier präsentiert, wenngleich die Phänomene einer kirchlichen Krise in der Diaspora Ostdeutschlands ein ganz anderes Gesicht haben als in der (noch) volkskirchlichen Situation des Rhein- und Münsterlandes. Undifferenzierte Forderungen an die Kirche, Familienfeste mit religiösem Unterfutter zu versorgen und die zugleich eingegangenen Verpflichtungen zu ignorieren, stellen m.E. nicht den Regelfall dar.
Doch die abnehmende Zahl der aktiven Christen und der Mitglieder einer Kirche lassen natürlich auch in unserem Umfeld die Frage aufkommen, was religiös Suchenden denn seitens der Kirche anzubieten wäre.

Wohin entwickelt sich das Ganze?
Alt-Treptow, Berlin, 2016.
Frings spitzt die Frage zu: "Was wäre, wenn es eine andere Form von Gemeinde gäbe?"1

Denn die Kirchengebäude gibt es in Deutschland allemal, es wäre nur die Frage, wie man Kirche so einladend gestaltet, dass interessierte Menschen auch hineingehen würden. Frings betont, dass alle interessierten Menschen dazu gehören könnten, seien sie nun getauft oder nicht. Entscheidend wäre, dass sie etwas suchen – und sich darum bewusst und je neu entscheiden würden, länger oder kürzer, verbindlicher oder mit mehr Abstand dabei zu sein – darum spricht Frings von einer Entscheidungsgemeinde.
Während traditionell das Territorium für eine Gemeinde entscheidend ist, würde hier gelten: "Eine Entscheidungsgemeinde wäre geformt nach dem Prinzip der Sehnsucht."2
Damit würde es um das Ernstnehmen der religiösen Fragen und Wünsche gehen und nicht um das Getauftsein oder die Hochform kirchlichen Selbstvollzugs in der Eucharistie, nicht um die fertigen Antworten, nach denen niemand mehr fragt – sondern um das Wagnis, sich auf die Realität einzulassen.
Dem besonders von konservativen Seiten erhobenen Vorwurf der Anbiederung an den Zeitgeist und das Rosinenpicken hält Frings entgegen: "Was wir zu wenig getan haben, ist, unser Angebot zu ändern, den veränderten Bedürfnissen der Menschen anzupassen." Denn es "gibt nicht das eine Angebot, sondern die unterschiedlichsten, abgestimmt auf den Hunger und Appetit der Kundschaft."3

Denn es ist ja beileibe nicht so, als hätte die Kirche nur Sakramente und Sakramentalien zu bieten – das eben, was für viele der einzige Andockpunkt der Kirche in ihrem Leben ist und doch zugleich mehr persönliches Involviertsein voraussetzen würde: sei es in der Kindertaufe, wo das Versprechen, sein Kind im Glauben zu erziehen, doch oft genug nicht gehalten werden kann, sei es bei der Erst-, die oft auf Jahre hin Letztkommunion ist und Kinder ebenso wie Eltern mit einer unbekannten liturgischen Feier und einem nicht nachvollziehbaren theologischen Inhalt maßlos überfordert und so weiter und so fort.
Für diese Zustände weiß Frings eine Unmenge an Beispielen und Anekdoten, angesichts derer seine konsequente Lösung ist: "Nicht Schafen hinterherlaufen, die sich gar nicht verloren fühlen. Sondern selbst Anlaufpunkt sein für Menschen, die kommen wollen."4

Denn Kirche kann auch anders. Nicht jeder muss für dasselbe bereit sein oder gar dasselbe von der Kirche wollen. Es gäbe ja durchaus Möglichkeiten, die eine "gestufte Nähe und auch Distanz"5 möglich sein ließen.
Wo sich Moos und Rinde begegnen.
Wald bei Naurod, 2017.
Für diese Gedanken wirft der Autor einen Blick auf die Ursprünge des Christentums, auf Jesus und die Menschen in seiner Umgebung:
Auch bei Jesus war es schließlich nicht so, dass alle Menschen ihm nach einer Begegnung gefolgt sind. Manche hat er explizit wieder weggeschickt, auch die berichteten großen (laut den Berichten der Evangelien oftmals perplex staunenden) Massen zogen nicht mit ihm mit durch Galiläa.
"Doch jeder Mensch bekommt seinen Zuspruch."6 Konkret bedeutete das: "Wer Heilung brauchte, Hunger hatte, Hilfe benötigte, der bekam seinen Zuspruch, ohne Wenn und Aber. Der Bedingungslosigkeit seiner Liebe folgt manchmal die Einladung zur Nachfolge."7

Das bedeutet für Menschen im Dienst der Kirche eine ungeheure Entlastung. Auch ich selbst als Seelsorger im Gefängnis fühle mich mit diesen Erinnerungen innerlich freier – ich kann Menschen in Kontakt mit der Liebe Gottes zu bringen versuchen. Aber das hat schon bei Jesus nicht dazu geführt, dass sich alle (oder auch nur viele) dauerhaft an ihn binden konnten und wollten. Frings schreibt: "Der erste Kontakt und Zuspruch ist bedingungslos. Daraus muss auch keine 'Mitgliedschaft' entstehen."8

Möglich sind unterschiedliche Segensfeiern, in denen die Zuwendung und Nähe Gottes ausgedrückt werden kann, ohne dass jemand dadurch in den verbindlichen Bund eintritt. 
Ein Anspruch wird erst dann formuliert, wenn jemand sich auch tatsächlich auf einen Weg einlassen will. Frings pointiert: "Nach außen Zuspruch, bis es weh tut, nach innen wachsenden Anspruch."9 Denn erst mit einer Entscheidung für das Christsein kommt es auch zu einem beidseitigen Anspruch von Einzelnem und Gemeinschaft.
Auf diese Weise wird, wer etwas von der Kirche will, selbstverständlich mit dem Wort Gottes gestärkt, mit Segen aufgerichtet und in Gemeinschaft eingefügt, solange er oder sie das möchte.
Was darüber hinaus geht, bedeutet eigenes Engagement und nicht das Zurücklehnen auf die hauptamtlichen Christen – Kirche zu werden wäre ein Unterschied dazu, etwas von der Kirche zu wollen. Es wäre darum ein Schritt "von der versorgten zur sorgenden Gemeinde".10

Daraus spricht ein großes Zutrauen in die Menschen mit religiösen Wünschen und in die Prägekraft des Christentums.
Und es wäre nicht eine Sakramentenverwaltung nach dem Prinzip, dass man nur "alles oder nichts" bekommen kann (wie es bei Taufe, Adoleszenz und Trauuung mit den Sakramentenspendungen weithin Praxis ist), sondern dieses Modell würde gestufte Möglichkeiten der Nähe zur Kirche bieten.
Ausprobieren könnte man es doch mal!
Praktisch hieße das laut Frings vor allem "Ungleichzeitigkeit und Individualität",11 also etwas, das unsere Welt sowieso schon auszeichnet. Es wäre eine wahrscheinlich kleine Gruppe von ÜberzeugungstäterInnen, die sich dann herauskristallisieren würde. Aber das spricht ja nicht gegen die Idee, solange sie nicht exklusiv als einzige Möglichkeit, Gemeinde zu sein, gedacht wird. Etwas mehr Weite in den Vorstellungen, wie Kirche sein kann, tut uns sicher gut – Margot Käßmann resümierte jüngst ihre Reisen als Reformationsbotschafterin: "So wie wir selbst Kirche sind, muss Kirche nicht unbedingt sein."12

Ein Vorbild der beachtenswerten Gedanken zu kirchlichen Neuaufbrüchen bietet nach Thomas Frings die Apostelgeschichte: "Die Protagonisten kamen aus einer uralten Tradition, mit unglaublich viel Geschichte und standen vor der Aufgabe, Neuland unter den Pflug zu nehmen."13

Ein Boot, das sich Gemeinde nennt!? Grünheide, 2016.
1   T. Frings, Aus, Amen, Ende. So kann ich nicht mehr Pfarrer sein. Freiburg i.Br. 2017, 148.
2   Ebd., 151.
3   Ebd., 153.
4   Ebd., 158.
5   Ebd., 160.
6   Ebd., 155.
7   Ebd., 159.
8   Ebd., 158.
9   Ebd., 166.
10   Ebd., 154.
11   Ebd., 156.
12   M. Käßmann, Meine Reise um die Welt in 143 Tagen. In: Die Zeit vom 27.04.2017, 52.

13   T. Frings, a.a.O., 163.