Samstag, 6. Mai 2017

Auszug der Schafe – Oder: Was für ein Hirte ist Thomas Frings?

Im Evangelium von Hirt und Herde, vom Schafstall und der Tür hinein (Joh 10,1-10) zeichnet das Johannesevangelium ein Bild des Vertrauens zwischen den Schafen und ihrem Hüter. Die Schafe folgen dem vertrauten Hirten und ihr Ein- und Ausgang ist so sicher, dass sie später das "Leben in Fülle" (v10) haben.
Wer aber auf die heutige Situation der Kirche in unseren Breiten und auf die bestellten Hirten schaut, der kann sehr rasch ernüchtert werden. Wenig Kontakt der Christen in ihre Gemeinden und zu den hauptamtlich Leitenden, wenig Zutrauen in die Leitung vor Ort, wenig Hoffnung für die Zukunft – und auch beim inneren Kontakt zum eigentlichen Hirten Christus scheint nicht Freundschaft im Gebet, sondern Sprachlosigkeit vorzuherrschen.
Was ist das für eine Herde, der die Schafe fortlaufen?

Wo stehen wir?
Baustelle in Schöneweide, Berlin, 2016.
Thomas Frings, Priester aus Münster, wurde letztes Jahr überregional bekannt, als er unter öffentlicher Kritik an vielerlei Verhältnissen in Pfarreien und unter den Gläubigen sein Pfarramt niederlegte und sich zunächst in ein Kloster verabschiedete. Er hat nun vor einigen Monaten seine Beobachtungen in seinem Buch "Aus, Amen, Ende?"1 ausführlich in Worte gefasst.

Seine Gedanken halte ich für so spannend, dass ich angesichts des anhaltenden (zumeist innerkirchlichen medialen) Interesses zu den Fragen der Zulassung zum Priesteramt (vgl. z.B. hier) und aus Anlass des Sonntags mit besagtem Evangelium einige der Themen vorstellen möchte.

1
Frings sieht die Kirche in der Krise, "weil wir Zeugen einer Glaubens- und Gotteskrise sind. Ob wir jedoch mit mehr Anstrengung und Bemühen etwas ändern können, das wage ich zu bezweifeln. Nie war Kirche in unserem Land stärker vertreten bei den Menschen mit mehr Kirchen, Pfarrhäusern, Kindergärten, Schulen, Pfarrheimen. Nie hatten wir besser ausgebildetes Personal an Seelsorgern. Nie haben die mit so viel Ideen, wissenschaftlichen Analysen und Studien gearbeitet – und mit all dem sind wir da hingekommen, wo wir jetzt sind."2

Das ist ernüchternd – Strukturen, Geld und Kompetenz überbrücken augenscheinlich nicht das weitgehende Desinteresse an Gott.

2
Vielleicht drehte es sich zu lange immer nur darum, mehr Priesterberufungen zu haben. Die seit dem Konzil vielfach und auch von Papst Franziskus3 (und den Deutschen Bischöfen in "Gemeinsam Kirche sein"4) neu ins Bewusstsein gerufene gemeinsame Taufgnade aller ChristInnen wird viel zu oft vernachlässigt.

Angesichts von Kirchenschließungen und Gemeindefusionen schreibt Frings: "Der Wunsch, vor Ort präsent zu bleiben, erfüllt sich [...] noch mehr, hundert- und tausendfach durch die Getauften, die vor Ort leben. Welchen Wert haben diese aber schon im Vergleich mit dem Gebäude oder dem hauptamtlichen Seelsorgepersonal? [...] Erst, wenn die Kirche geschlossen oder die Pfarrerstelle nicht mehr besetzt wird, ist eine Veränderung für fast alle Menschen spürbar – dagegen regt sich Widerstand, aber oft auch erst dann. Demnach konstituiert sich bei uns Kirche wesentlich und sichtbar über Gebäude und Hauptamtliche. Die Anwesenheit Hunderter und Tausender Getaufter spielt eine untergeordnete Rolle. Es liegt noch ein weites Feld vor uns, die Taufgnade ernst zu nehmen und ihre Berufung zu stärken."5

Soll das eine Kirche sein?
Aula und UniversitätskirchePaulinum,
Leipzig, 2016.
In diesem Zusammenhang weist Fring auch auf die Engführung des Gebets um Berufungen hin. Dies wird ja zumeist so verstanden, dass für "die große Ernte" (Mt 9,37) Priester oder Ordensberufungen erbetet werden sollen. Doch hat Jesus "im Hinblick auf uns in Deutschland wirklich daran gedacht, wir sollten beten um bezahlte Kräfte im Dienst des Evangeliums? Woraus besteht die besagte Ernte denn? Aus der Betreuung von Getauften bis zu deren Tod? Sind die Getauften die Ernte, die von hauptamtlichen Getauften zusammengehalten wird? Kluge Köpfe haben schon darauf hingewiesen, dass es vielleicht ein Zeichen Gottes ist, dass er unser Gebet nicht erhört, damit wir hingehen und etwas ändern."6

Dem ist (aus Sicht eines hauptamtlichen Gefängnis- und Schulseelsorgers...) nichts hinzuzufügen.

3
Die Anspruchshaltung an Pfarrer in Gegenden, wo Kirche (noch) als Volkskirche existiert, kenne ich aus eigenem Erleben nicht. Meine Klientel ist in der Regel randständig oder von kirchlich allseits gewendeten Glaubensfragen völlig unberührt.
Wo die regelmäßigkeit des Kirchgangs und damit der Kontakt zu Pfarrern abnimmt, gewinnt die einzelne Begegnung an Gewicht. 

Das bedeutet einen enormen Druck auf die Pfarrer: "Erleben Menschen uns nur noch alle fünf bis zehn Jahre bei einer Taufe, Erstkommunion, Hochzeit oder Beerdigung und erwischen uns dann an [...] einem schlechten Tag, dann heißt es für die kommenden Jahre: 'Der ist unsympathisch und macht schlechte Stimmung. Ein guter Grund, da nicht mehr hinzugehen.'"7
Solchen Nörglern, die vor allem am kirchlichen "Bodenpersonal" Gottes immer etwas auszusetzen haben und mit Kirchenaustritt drohen, falls bestimmte Formen bei kirchlichen Familienfeiern nicht wunschgemäß umgesetzt werden, selbst aber nur zu Weihnachten und ebendiesen Familienfesten in die Kirche kommen, möchte Frings entgegnen, dass sie sich doch vor eine normale Gemeinde stellen und schauen sollten:
"Was meinen Sie, was Sie da für eine Ansammlung von Mangelerscheinungen zu sehen und zu hören kriegen! Glauben Sie wirklich, dass nur Sie es schwer haben und wir umgekehrt nur hundert-oder auch nur achtzigprozentige tolle Menschen vor uns haben?"8

Wahrscheinlich sollte man sich das nicht überall erlauben, aber angesichts ständiger Krittelei finde ich eine solche Aussage nur zu verständlich. Und auch Jesus selbst war ja nicht zimperlich in der Einschätzung seiner Zeitgenossen.

Realismus und Barmherzigkeit schließen sich allerdings nicht aus, sondern gehören in der christlichen Herde zusammen. Das gilt in der Selbsteinschätzung genauso wie in der Wahrnehmung der Institution. Menschen, die einen Wiedereintritt in die Kirche überlegen, entgegnet Frings darum: "Wir freuen uns über jeden Menschen, der bei uns mitmachen will. Doch wer glaubt, dass wir durch ihn nur besser werden, der überschätzt sich – und der unterschätzt uns."9

4
Zu guter letzt (dort stehe ich in meiner Lektüre gerade ...) macht Frings wieder neu sensibel für die Unterscheidungen in der Kirche. Die Distinktionen sind (v.a. mit Blick auf das elterliche Verprechen bei der Taufe, das eigene Kind im Glauben zu erziehen) sehr klar: "Bei uns gibt es immer nur 'ganz' oder 'gar nicht'. Mit dem Ergebnis, dass alles versprochen und immer weniger gehalten wird."10
Angesichts dieser Situation fragt Frings, ob eine gestufte Zugehörigkeit für die Mehrzahl der Menschen nicht viel sinnvoller wäre: "Zum Beispiel, wenn Eltern ihr Kind zunächst einmal segnen und dann, wenn die Entscheidung wirklich gereift und gefallen ist, später taufen. So entscheiden sie mit, wie viel sie versprechen und auch halten können. Die Katechumenensalbung könnte wieder zu ihrem Recht und ihrer Wirkung kommen. Unser Angebot und das Bedürfnis der Menschen, die immer seltener in Übereinstimmung zu bringen sind, könnten sich wieder annähern."11

Insgesamt sehr spannende Einsichten und Vorschläge, die zum Einen dem gesellschaftlichen Bedeutungsverlust der Kirche und der Abwendung von vielen ihrer Angeboten selbst seitens ihrer eigenen Mitglieder Rechnung tragen und dabei zugleich spirituell feinfühlig, hochenagiert, erfahrungsgesättigt und innovativ sind.
Zugleich behauptet der Autor nicht, auf alles eine Antwort zu haben.

Doch gerade das ist: Überzeugend und voller persönlichem Einsatz. Solche Hirten wünscht man sich.

Eingang zum Park. Kladow, Berlin, 2015.

1   T. Frings, Aus, Amen, Ende. So kann ich nicht mehr Pfarrer sein. Freiburg i.Br. 2017.
2   Ebd., 31.
5   T. Frings, a.a.O., 39.
6   Ebd., 44.
7   Ebd., 65.
8   Ebd., 58.
9   Ebd., 61.
10   Ebd., 73.
11   Ebd., 79.