Samstag, 4. November 2017

Alle gleich vor Gott? Kritisches von Jesus und Luther

"Ihr ... sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn nur einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Brüder." (Mt 23,8)
So bringt Jesus auf dem Höhepunkt seiner Klerikerschelte im Evangelium des heutigen Sonntags (Mt 23,1-12) sein Anliegen auf den Punkt: Alle seine Jünger sind gleich. Denn sie sind alle Brüder. Keiner ist einem anderen vor- oder übergeordnet. Nur der Vater im Himmel steht als der eigentliche "Heilige Vater" über allen (vgl. v9), ebenso wie Jesus menschlicher Ausleger dieses Vaters und deshalb der einzige Lehrmeister der Seinen ist.
Alles dagegen, was eine weitergehende Vorrangstellung aus religiösen Gründen beansprucht, ist reine Überheblichkeit. Wo menschliche Satzungen die grundlegende Gleichheit aller vor Gott aushebelt, ist dies nicht im Sinne Jesu. Auch wenn sich seine Worte auf die jüdischen Autoritäten seiner Zeit beziehen, sind sie in der Komposition des Matthäus doch klar ausgerichtet auf die christliche Gemeinde Praxis.
Die revolutionäre Sprengkraft dieses Evangelienabschnitts ist in den Jahrhunderten, die die Kirche besteht, nur sehr eingeschränkt verwirklicht worden.

Alle dürfen mitspielen.
St. Christophorus, Neukölln, Berlin, 2016.
Das, soviel sei der Vollständigkeit halber hinzugefügt, schmälert kirchliche Aufgaben und Ämter natürlich nicht – aber sie müssen eben so ausgeübt werden, dass Reden und Tun zusammengehen und die Anvertrauten nicht übervorteilen (vgl. v3f).

Und nun gehört es zum Nachklang des Reformationsgedenkjahres, dass diese Gleichheit aller Getauften eine der zentralen Einsichten Luthers war, wie er vornehmlich in seiner Schrift "An den christlichen Adel deutscher Nation" von 1520 formulierte.
Man kann sich als braver Katholik des 21. Jahrhunderts natürlich nicht alle dortigen Inhalte gleichermaßen zueigen machen (zumal die Einrichtung so genannter Notbischöfe, als die die Fürsten später fungierten, ein äußerst desaströs wirkendes Resultat dieser Gedanken war), aber die Betonung des gemeinsamen Priestertums aller Gläubigen, wie es auch die katholische Kirche seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil wiederentdeckt hat, ist nun einmal ein bedeutender Baustein christlichen Denkens.
Wenngleich er immer wieder neu hervorgesucht und im theologischen Gedankengebäude verbaut werden muss.

"Alle Christen sind wahrhaftig geistlichen Standes, und es gibt unter ihnen keinen Unterschied außer hinsichtlich des Amtes, wie Paulus im 1. Korintherbrief, Kap. 12, sagt, dass wir allesamt ein Leib sind, auch wenn jedes Glied seine eigene Aufgabe hat, mit der es den anderen dient."1 So betont Luther in seinem Schreiben zugleich Gleichheit und Differenz unter diesen Gleichen.
Dann aber fügt er hinzu: "Dass aber der Papst oder Bischof salbt, Tonsuren schneidet, ordiniert, weiht, sich anders als die Laien kleidet, kann einen Betrüger oder Ölgötzen hervorbringen, aber nimmermehr einen Christen oder geistlichen Menschen."2
Alles also, was in der Kirche über die Taufe hinaus noch getan oder gefeiert oder geschenkt oder geleistet wird, kann nicht hervorbringen, was die Taufe schon grundgelegt hat.
"Denn was aus der Taufe gekrochen kommt, das kann sich rühmen, allein damit zum Priester, Bischof und Papst geweiht zu sein, obwohl es nicht einem jeden ziemt, ein solches Amt auch wirklich auszuüben. Denn wenn wir auch alle gleichermaßen Priester sind, darf sich niemand selbst hervortun".3
Und er fährt fort mit einer demokratisch legitimierten Einsetzung der geistlichen Ämter, die hier mit all ihren positiven und negativen Seiten nicht diskutiert werden soll.
Und natürlich führt Luther auch die für die katholische Kirche seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil neu wiederentdeckte Schriftstelle an, in der es heißt: "Ihr ... seid ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft, ein heiliger Stamm, ein Volk, das sein [Gottes; RP] besonderes Eigentum wurde, damit ihr die großen Taten dessen verkündet, der euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen hat." (1Petr 2,9)

Für den Kirchenhistoriker Volker Leppin ist die Betonung des gemeinsamen Priestertums aller Getauften "die alles entscheidende Transformation mystischen Denkens" – aus dem geistlichen Untergrund und dem Wunsch, Menschen (auch durch die Kritik am Ablass) wieder näher zu Gott zu führen, wächst eine kirchenpolitische Linie heraus: "Hier wird aus Theologie Politik",4 denn Luther stellt die weltliche Obrigkeit nun auch auf einen festen christlichen Boden, indem er ihr eine theologisch legitimierte Aufgabe zum Aufbau der Kirchengemeinschaft zuweist. Luther betont: "Und jeder soll mit seinem Amt oder seiner Aufgabe den anderen nützlich und dienstbar sein, so dass sich vielerlei Werke auf eine Gemeinde richten, um Leib und Seele zu fördern, genau wie die Gliedmaßen des Körpers alle eines dem andern dienen."5
Diese Aufwertung weltlicher wurde entscheidender Grund dafür, "dass die Reformation der Kirche ein attraktives Programm für politische Verantwortungsträger werden konnte."6

Nicht verstecken!
Turm der Schlosskirche, Wittenberg, 2017.
Mit Blick auf die Folgen dieser Attraktivität, die über den Dreißigjährigen Krieg bis heute reichen, kann man ohne Übertreibung sagen, dass dieser Gedanke in nicht nur in der Geschichte der evangelischen Kirche(n), sondern auch für die europäischen Machtverhältnisse ein absoluter Umbruch war.
Auch hier wieder: mit allen positiven wie negativen Konsequenzen solcher Denkanstöße und ihrer Umsetzung.
Alles kommt her aus diesem einen zentralen Gedanken der Gleichheit und was sich daraus ergibt: Wenn alle gleich sind in der Kirche Gottes, dann tragen auch alle für die Kirche Verantwortung.

Damit ist Jesu Kritik an denen, die sich religiös hervortun und andere bevormunden wollen, ins Positive gewendet: wenn sich nicht einige wenige Gemeindeglieder Lehrer oder Rabbi oder Vater nennen lassen sollen, dann ist damit nicht nur eine neue Ausrichtung auf Gott gegeben, sondern dann sind eben auch jene gefragt, die sich sonst lieber zurückziehen und die Verantwortung abwälzen möchten.

Aber Jesus will weder die Allesübertöner noch die Drückeberger.
Er will Brüderlichkeit als Basis – und darauf aufbauend den Einsatz eines jeden an seinem Ort.


1   Zit n. : M. Luther, Das große Lesebuch. (hg.v. K.-H. Göttert) Frankfurt a.M. 2016, 89.

2   Ebd., 89f.

3   Ebd., 91.

4   V. Leppin, Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln. München 2016, 151.

5   M. Luther, a.a.O., 92.


6   V. Leppin, a.a.O., 151.