"Ihr ... sollt euch nicht Rabbi
nennen lassen; denn nur einer ist euer Meister, ihr alle aber seid
Brüder." (Mt 23,8)
So bringt Jesus auf dem Höhepunkt
seiner Klerikerschelte im Evangelium des heutigen Sonntags (Mt
23,1-12) sein Anliegen auf den Punkt: Alle seine Jünger sind gleich.
Denn sie sind alle Brüder. Keiner ist einem anderen vor- oder
übergeordnet. Nur der Vater im Himmel steht als der eigentliche
"Heilige Vater" über allen (vgl. v9), ebenso wie Jesus
menschlicher Ausleger dieses Vaters und deshalb der einzige
Lehrmeister der Seinen ist.
Alles dagegen, was eine weitergehende
Vorrangstellung aus religiösen Gründen beansprucht, ist reine
Überheblichkeit. Wo menschliche Satzungen die grundlegende
Gleichheit aller vor Gott aushebelt, ist dies nicht im Sinne Jesu.
Auch wenn sich seine Worte auf die jüdischen Autoritäten seiner
Zeit beziehen, sind sie in der Komposition des Matthäus doch klar
ausgerichtet auf die christliche Gemeinde Praxis.
Die revolutionäre Sprengkraft dieses
Evangelienabschnitts ist in den Jahrhunderten, die die Kirche
besteht, nur sehr eingeschränkt verwirklicht worden.
Alle dürfen mitspielen. St. Christophorus, Neukölln, Berlin, 2016. |
Das, soviel sei der Vollständigkeit
halber hinzugefügt, schmälert kirchliche Aufgaben und Ämter
natürlich nicht – aber sie müssen eben so ausgeübt werden, dass
Reden und Tun zusammengehen und die Anvertrauten nicht übervorteilen
(vgl. v3f).
Und nun gehört es zum Nachklang des
Reformationsgedenkjahres, dass diese Gleichheit aller Getauften eine
der zentralen Einsichten Luthers war, wie er vornehmlich in seiner
Schrift "An den christlichen Adel deutscher Nation"
von 1520 formulierte.
Man kann sich als braver Katholik des
21. Jahrhunderts natürlich nicht alle dortigen Inhalte gleichermaßen
zueigen machen (zumal die Einrichtung so genannter Notbischöfe, als
die die Fürsten später fungierten, ein äußerst desaströs
wirkendes Resultat dieser Gedanken war), aber die Betonung des
gemeinsamen Priestertums aller Gläubigen, wie es auch die
katholische Kirche seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil
wiederentdeckt hat, ist nun einmal ein bedeutender Baustein
christlichen Denkens.
Wenngleich er immer wieder neu
hervorgesucht und im theologischen Gedankengebäude verbaut werden
muss.
"Alle Christen sind wahrhaftig
geistlichen Standes, und es gibt unter ihnen keinen Unterschied außer
hinsichtlich des Amtes, wie Paulus im 1. Korintherbrief, Kap. 12,
sagt, dass wir allesamt ein Leib sind, auch wenn jedes Glied seine
eigene Aufgabe hat, mit der es den anderen dient."1
So betont Luther in seinem Schreiben zugleich Gleichheit und
Differenz unter diesen Gleichen.
Dann aber fügt er hinzu: "Dass
aber der Papst oder Bischof salbt, Tonsuren schneidet, ordiniert,
weiht, sich anders als die Laien kleidet, kann einen Betrüger oder
Ölgötzen hervorbringen, aber nimmermehr einen Christen oder
geistlichen Menschen."2
Alles also, was in der Kirche über die
Taufe hinaus noch getan oder gefeiert oder geschenkt oder geleistet
wird, kann nicht hervorbringen, was die Taufe schon grundgelegt hat.
"Denn was aus der Taufe
gekrochen kommt, das kann sich rühmen, allein damit zum Priester,
Bischof und Papst geweiht zu sein, obwohl es nicht einem jeden ziemt,
ein solches Amt auch wirklich auszuüben. Denn wenn wir auch alle
gleichermaßen Priester sind, darf sich niemand selbst hervortun".3
Und er fährt fort mit einer
demokratisch legitimierten Einsetzung der geistlichen Ämter, die
hier mit all ihren positiven und negativen Seiten nicht diskutiert
werden soll.
Und natürlich führt Luther auch die
für die katholische Kirche seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil neu
wiederentdeckte Schriftstelle an, in der es heißt: "Ihr ...
seid ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft,
ein heiliger Stamm, ein Volk, das sein [Gottes; RP] besonderes
Eigentum wurde, damit ihr die großen Taten dessen verkündet, der
euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen hat."
(1Petr 2,9)
Für den Kirchenhistoriker Volker
Leppin ist die Betonung des gemeinsamen Priestertums aller Getauften
"die alles entscheidende Transformation mystischen Denkens"
– aus dem geistlichen Untergrund und dem Wunsch, Menschen (auch
durch die Kritik am Ablass) wieder näher zu Gott zu führen, wächst
eine kirchenpolitische Linie heraus: "Hier wird aus Theologie
Politik",4
denn Luther stellt die weltliche Obrigkeit nun auch auf einen festen
christlichen Boden, indem er ihr eine theologisch legitimierte
Aufgabe zum Aufbau der Kirchengemeinschaft zuweist. Luther betont:
"Und jeder soll mit seinem Amt oder seiner Aufgabe den anderen
nützlich und dienstbar sein, so dass sich vielerlei Werke auf eine
Gemeinde richten, um Leib und Seele zu fördern, genau wie die
Gliedmaßen des Körpers alle eines dem andern dienen."5
Diese Aufwertung weltlicher wurde
entscheidender Grund dafür, "dass die Reformation der Kirche
ein attraktives Programm für politische Verantwortungsträger werden
konnte."6
Nicht verstecken! Turm der Schlosskirche, Wittenberg, 2017. |
Mit Blick auf die Folgen dieser
Attraktivität, die über den Dreißigjährigen Krieg bis heute
reichen, kann man ohne Übertreibung sagen, dass dieser Gedanke in
nicht nur in der Geschichte der evangelischen Kirche(n), sondern auch
für die europäischen Machtverhältnisse ein absoluter Umbruch war.
Auch hier wieder: mit allen positiven wie negativen Konsequenzen
solcher Denkanstöße und ihrer Umsetzung.
Alles kommt her aus diesem einen
zentralen Gedanken der Gleichheit und was sich daraus ergibt: Wenn
alle gleich sind in der Kirche Gottes, dann tragen auch alle für die
Kirche Verantwortung.
Damit ist Jesu Kritik an denen, die
sich religiös hervortun und andere bevormunden wollen, ins Positive
gewendet: wenn sich nicht einige wenige Gemeindeglieder Lehrer oder
Rabbi oder Vater nennen lassen sollen, dann ist damit nicht nur eine
neue Ausrichtung auf Gott gegeben, sondern dann sind eben auch jene
gefragt, die sich sonst lieber zurückziehen und die Verantwortung
abwälzen möchten.
Aber Jesus will weder die
Allesübertöner noch die Drückeberger.
Er will Brüderlichkeit als Basis –
und darauf aufbauend den Einsatz eines jeden an seinem Ort.
1 Zit
n. : M. Luther, Das große Lesebuch. (hg.v. K.-H. Göttert)
Frankfurt a.M. 2016, 89.
2 Ebd.,
89f.
3 Ebd.,
91.
4 V.
Leppin, Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln. München
2016, 151.
5 M.
Luther, a.a.O., 92.