Dienstag, 8. Mai 2018

"Niemals im Leben vergessen". Heinrich Bölls Kriegsende

Im Mai 1945 muss es wieder sehr kalt gewesen sein.
Noch am 01. Mai notiert Heinrich Böll in seinem Tagebuch "Schnee-Morast"1 für sein Kriegsgefangenenlager in Attichy nordöstlich von Paris.

Dementsprechend fühlt sich der spätere Literat auch: "Kälte, Schmutz Elend, Hunger und Jammer, Jammer!"2 sind die Stichworte während dieser Zeit, die er wie alles in seinen Tagebüchern in äußerst knappen Worten festhält. Diese Schlaglichter beschreiben nichts, sie deuten nur auf das, was die hauptsächlichen Emfindungen gewesen sein müssen. Besonders der Hunger zieht sich seitenlang als immer wiederkehrende Notiz über die Seiten jener Wochen.
Unordnung und Dreck.
Müllrose, 2017.

Eine moralische Konsequenz dieser Erfahrungen formuliert er für sich noch Ende April:
"Niemals im Leben vergessen und niemals einen Bettler wegschicken".3
Wäre eine solche persönliche Lernleistung die praktisch nachhaltige Frucht furchtbarer Kriegserfahrungen, wäre schon viel gewonnen.

Noch aber saß Böll im Dreck des Kriegsendes.
Hatte er sich schon von seiner Einberufung an unwohl in der Uniform gefühlt und in seinen Briefen nach Haus über Öde und Stumpfsinn des Soldatseins geklagt, so war die Situation in der Gefangenschaft vollends unerträglich geworden. Zu seinem erklärten Widerwillen gegen den Krieg kamen nun außerdem noch Hämorrhoiden und Stirnhöhlenvereiterung.

In all diesen Notlagen flehte er immer wieder um Gottes Beistand: "Gott sei uns gnädig" und "Gott möge mir helfen".4
Aber nicht nur Gott, auch seine Frau Anne-Marie findet sich in seinen Anrufungen, wahrscheinlich öfter noch verzehrt er sich in Gedanken und Sorgen um sie.

Und dann der 08. Mai selbst, genau wie 2018 der Dienstag vor Christi Himmelfahrt!
Kurz und bündig fasst der Gefangene zusammen:
"8. Mai 
ab 1.00 morgens 
Frieden in Europa"5

Für ihn selbst bedeutete das wenigstens die Hoffnung, bald heimkehren zu können, auch wenn sich seine Situation nur sehr langsam besserte.

Fast im selben Atemzug aber hält Böll auch fest, was wohl viele Gefangene, auch viele Deutsche in den zerbombten Städten und versehrten Landstrichen nach diesem entsetzlichen Krieg gefühlt haben müssen:
"Schmerz um Deutschland"6

Die Heimat in Trümmern liegen zu sehen, all die Zerstörung, die von Deutschland ausgehend sich schließlich gegen ihre Verursacher zurückgewandt hatte, musste wohl gerade in denen, die nicht nationalsozialistisch gedacht hatten, Trauer und Verzweiflung auslösen.

Doch so, wie Böll Hunger und Armut nicht vergessen wollte, hielt er kurz vor seiner Entlassung im September 1945 ebenso sein religiöses Fazit fest:
"Niemals die Dankbarkeit gegenüber Gott vergessen! Niemals!"7

Diese Haltung steht auch uns, die wir keinen Krieg erleben müssen, gut zu Gesicht.

Versehrte Landschaft.
Neuendorf, Hiddensee, 2017.


1   H. Böll, Man möchte manchmal wimmern wie ein Kind. Die Kriegstagebücher 1943-1945. Köln 2017, 242.
2   Ebd., 243.
3   Ebd., 242.
4   Ebd., 35.152.166.174.223.245 u.ö.
5   Ebd., 243.
6   Ebd., 244.
7   Ebd., 266.