Im Mai 1945 muss es wieder sehr kalt
gewesen sein.
Noch am 01. Mai notiert Heinrich Böll
in seinem Tagebuch "Schnee-Morast"1
für sein Kriegsgefangenenlager in Attichy nordöstlich von Paris.
Dementsprechend fühlt sich der spätere
Literat auch: "Kälte, Schmutz Elend, Hunger und Jammer,
Jammer!"2
sind die Stichworte während dieser Zeit, die er wie alles in seinen
Tagebüchern in äußerst knappen Worten festhält. Diese
Schlaglichter beschreiben nichts, sie deuten nur auf das, was die
hauptsächlichen Emfindungen gewesen sein müssen. Besonders der
Hunger zieht sich seitenlang als immer wiederkehrende Notiz über die
Seiten jener Wochen.
Unordnung und Dreck. Müllrose, 2017. |
Eine moralische Konsequenz dieser
Erfahrungen formuliert er für sich noch Ende April:
"Niemals im Leben vergessen und
niemals einen Bettler wegschicken".3
Wäre eine solche persönliche
Lernleistung die praktisch nachhaltige Frucht furchtbarer
Kriegserfahrungen, wäre schon viel gewonnen.
Noch aber saß Böll im Dreck des
Kriegsendes.
Hatte er sich schon von seiner
Einberufung an unwohl in der Uniform gefühlt und in seinen Briefen
nach Haus über Öde und Stumpfsinn des Soldatseins geklagt, so war
die Situation in der Gefangenschaft vollends unerträglich geworden.
Zu seinem erklärten Widerwillen gegen den Krieg kamen nun außerdem
noch Hämorrhoiden und Stirnhöhlenvereiterung.
In all diesen Notlagen flehte er immer
wieder um Gottes Beistand: "Gott sei uns gnädig"
und "Gott möge mir helfen".4
Aber nicht nur Gott, auch seine Frau
Anne-Marie findet sich in seinen Anrufungen, wahrscheinlich öfter
noch verzehrt er sich in Gedanken und Sorgen um sie.
Und dann der 08. Mai selbst, genau wie
2018 der Dienstag vor Christi Himmelfahrt!
Für ihn selbst bedeutete das
wenigstens die Hoffnung, bald heimkehren zu können, auch wenn sich
seine Situation nur sehr langsam besserte.
Fast im selben Atemzug aber hält Böll
auch fest, was wohl viele Gefangene, auch viele Deutsche in den
zerbombten Städten und versehrten Landstrichen nach diesem
entsetzlichen Krieg gefühlt haben müssen:
"Schmerz um Deutschland"6
Die Heimat in Trümmern liegen zu
sehen, all die Zerstörung, die von Deutschland ausgehend sich
schließlich gegen ihre Verursacher zurückgewandt hatte, musste wohl
gerade in denen, die nicht nationalsozialistisch gedacht hatten,
Trauer und Verzweiflung auslösen.
Doch so, wie Böll Hunger und Armut
nicht vergessen wollte, hielt er kurz vor seiner Entlassung im
September 1945 ebenso sein religiöses Fazit fest:
"Niemals die Dankbarkeit
gegenüber Gott vergessen! Niemals!"7
Diese Haltung steht auch uns, die wir keinen Krieg erleben müssen, gut zu Gesicht.
Versehrte Landschaft. Neuendorf, Hiddensee, 2017. |
1 H.
Böll, Man möchte manchmal wimmern wie ein Kind. Die
Kriegstagebücher 1943-1945. Köln 2017, 242.
2 Ebd.,
243.
3 Ebd.,
242.
4 Ebd.,
35.152.166.174.223.245 u.ö.
5 Ebd.,
243.
6 Ebd.,
244.
7 Ebd.,
266.