Mittwoch, 23. Mai 2018

Religiöse Ekstase in James Baldwins "Von dieser Welt"

"... etwas regte sich in Johns Körper, das nicht John war. Etwas war in ihn eingedrungen, hatte ihn entwürdigt und besetzt. Diese Kraft hatte John in den Kopf oder ins Herz getroffen und auf einen Streich, indem sie ihn ganz und gar mit einer Qual erfüllte, die er sich niemals hätte vorstellen können und sicher nicht aushalten und selbst jetzt noch nicht fassen konnte, geöffnet, mittendurch aufgeknackt wie Holz unter einer Axt, wie brechendes Gestein; hatte ihn auf einen Streich mitgerissen und hingestreckt, sodass John nicht die Wunder spürte, sondern nur den Schmerz, nicht den Fall, sondern nur die Furcht. Und so lag er nun da, hilflos, schreiend, am Grund der Finsternis."1

Ein Sturz in die Tiefe, Finsternis, Tränen, Schreie, endlos tiefes Wasser, Feuer und einsame Verzweiflung – der gerade vierzehn Jahre alt gewordene John hat beim abendlichen Gottesdienst eine Vision.

In einer Vision sah ich eine Treppe, die
in den Himmel führte.
Schlosskirche, Wittenberg, 2017.
Und an deren Anfang steht die Wahrnehmung, dass da etwas in ihm ist, das nicht zu ihm gehört.
Über viele viele Seiten wird James Baldwin die innere Reise des Jungen durch die Dunkelheit beschreiben – bis zurück ans Licht. Es ist eine kathartische Reise, in der auf Einsamkeit und Schmerz am Ende Wiedergeburt und neues Leben im Geist folgen.
Die religiösen Erwartungen seiner Familie und der Gottesdienstgemeinde sind nach dieser Ekstase erfüllt, Johns Leben kann neu weitergehen.

Wohin es ihn führen wird, das beibt offen.
Denn es handelt sich um den Schluss von James Baldwins Roman "Von dieser Welt", der in diesem Jahr in neuer Übersetzung auf Deutsch erschienen ist. Baldwins feinsinnige und zugleich kritische Beobachtung christlicher Religiosität ist ein faszinierendes Lernfeld für die Unterscheidung der Geister.
Auch wenn es sich hier "nur" um Literatur handelt, möchte ich exemplarisch einer Frage nachgehen:
Ist dieses körperliche und geistige Hingeworfensein nun das Wehen des Heiligen Geistes oder ist es eine Halluzination, eine psychische Aufarbeitung vergangener Traumata, ein Hirngespinst?

Theologisch finde ich es schwierig, ein radikales Übermanntwerden mit meiner Vorstellung von Gott übereinzubekommen. Denn anders als Luther, der den Menschen entweder vom Teufel oder von Gott geritten und damit immer irgendwie übermannt sah, glaube ich (mit vielen katholischen Theologen), dass Gott die menschliche Freiheit schätzt und würdigt. Das Besetzt- und Umgeworfensein, wie Baldwin formuliert, klingt aber eher nach dem Ausschalten der Freiheit. Das freie Ja des Menschen zur Einladung und zum Werben Gottes wär damit übersprungen und John entmündigt. Und das ausgerechnet an seinem vierzehnten Geburtstag – an dem man in Deutschland religionsmündig wird.

Praktisch-religiös scheint es sich im Kontext des Buches gerade um das Erwachsenwerden zu handeln. Freikirchliche und pfingstliche Gemeinschaften sehen in der religiösen Entrückung geradezu einen Beweis der Zuwendung zu Gott. Und tatsächlich scheint Gottes Macht nach der Bibel Menschen ja auch ohne ihre Einwilligung zu ergreifen – siehe Jona.
Außerdem liegt das Ekstatische als religiöses Movens vielen anderen religiösen Bewegungen voraus, wie ein Blick in die Religionsgeschichte zeigt.
Zuletzt gilt: Ich kann niemandem seine religiösen Erfahrungen absprechen, wie sie hier literarisch überformt ausgedrückt sind.

Psychologisch stehen hinter vielen konkreten Inhalten der Vision Erfahrungen mit dem beständigen Reden von Sünde und Erlösung im Kontext von Johns Erziehung. In dieser Weise kommt auch die zwiespältige Vaterfigur des Buches (der in einem eigenen Kapitel auch noch mit seinen eigenen Fragen und Grenzen präsentiert wird) in seinen ekstatischen Erfahrungen reichlich vor.

Ignatianisch handelt es sich um ein Paradebeispiel für die Frage nach der Unterscheidung der Geister. So schreibt Ignatius in seinen Geistlichen Übungen zunächst und grundlegend, dass die Lebensausrichtung eines Menschen entscheidend ist für das Wirken des Geistes – geht einer den Weg Gottes, wird Gottes Geist bestärkend und unterstützend sein, geht er aber den schlechten Weg, wird er ihn irritieren.2
Es muss also gefragt werden, in welche Richtung Johns Leben im Roman unterwegs ist, um zu unterscheiden, ob es sich um den Geist Gottes gehandelt haben kann.
Die Wucht, mit der es ihn umwirft, lässt ahnen, dass es sich um einen ziemlichen Konflikt handelt. Ignatius schreibt dazu: "wenn sie [die Haltung der Seele] entgegengesetzt ist, dann treten sie [die Geister] mit Lärm und manchem Verspüren wahrnehmbar ein. Und wenn sie gleichartig ist, tritt er schweigend ein wie in das eigene Haus bei offener Tür." (GÜ135).
So sprechen die Stärke des Leidens und die Tiefe des Falls eine eindeutige Sprache – aber auch die Kehrtwende und der Trost.
Denn für Ignatius ist echte "Tröstung" ein klares Zeichen göttlichen Eingreifens.
Und so, nahe bei Gott, fühlt sich John anschließend auch:
"Ja, die Nacht war vorüber, die Nächte der Finsternis waren zurückgeschlagen. Er bewegte sich inmitten der Gläubigen, er, John, der heimgekommen und jetzt einer der ihren war; er weinte und fand noch keine Worte für seine große Freude, wusst auch kaum, wie er sich bewegte, denn seine Hände waren neu, und seine Füße waren neu, und er bewegte sich in neuer lichter Himmelsluft."3

Und damit könnte alles gut sein. Doch der göttliche Trost und die Erfahrungen der Ekstase treffen auf die Welt, die so geblieben ist, wie sie ist...

Aber das soll jeder selbst lesen. 
Ein äußerst lohnenswertes Buch, nicht nur in religiöser Hinsicht!

Der Glanz eines neuen Morgens.
Peetzsee, Grünheide, 2018.

1   J. Baldwin, Von dieser Welt. Neuübersetzung von "Go Tell It on the mountain" (New York 1953), München 2018, 277f.
2   Ignatius v. Loyola, Geistliche Übungen und erläuternde Texte. Leipzig 1978, No. 314f.
3   J. Baldwin, a.a.O., 296.