Gott ist weg.
Das ist die Situation, in der sich die
Jünger zwischen Himmelfahrt und Pfingsten befunden haben.
Ich weiß nicht, ob Sie sich in die
Lage hineinversetzen können, in der sich die Jünger befunden haben
müssen, nachdem Jesus zuerst verhaftet wurde, dann am Kreuz
gestorben war und schließlich zu Himmelfahrt gänzlich verschwand.
Der Lebensmittelpunkt der Jünger war
damit verschwunden. Monate- oder sogar jahrelang waren sie mit Jesus
durch Galiläa und Judäa gelaufen, hatten dafür ihre Familien
verlassen und sich ganz auf dieses neue Leben des Messias
eingestellt. Und nun ist er weg, auf den Schock seines Todes folgte
zunächst der Schock seiner Auferstehung, aber selbst darauf aber
hatten sie sich eingelassen. Aber nun ist er weg. Keine Erscheinungen
mehr, kein Brotbrechen mit dem Auferstandenen, keine Sicherheit, dass
da überhaupt jemand ist.
Verlorener Boden unter den Füßen. Kirchmöser, 2017. |
Denn wer spürt schon Gottes Gegenwart in jedem Augenblick, wer erlebt regelmäßige Gebetserhörungen, wer kann schon von sich behaupten, in beständiger göttlicher Tröstung durch seinen Alltag zu gehen, wer lebt sein Christsein so überzeugend, dass sich davon viele Leute anstecken lassen?
Vielleicht lässt sich sogar Ihre
Situation in einer Gemeinde ohne Pfarrer damit vergleichen – denn
selbstverständlich macht es etwas aus, ob das gewohnte
Seelsorgepersonal regelmäßig vor Ort ist oder nicht. Manch einer
mag sich da verlassen fühlen von der Kirchenleitung, manch andere
werden enttäuscht seltener oder gar nicht mehr kommen, viele fühlen
sich vielleicht nicht bestärkt in ihrem Glaubensleben und so fort.
Wahrscheinlich kannten auch die Jünger
diese Gefühle – sie waren enttäuscht, fühlten sich verlassen,
wurden nachlässiger.
Genau von dieser Situation handelt das
heutige Evangelium (Joh 17,6a.11b-19).
Denn die so genannten Abschiedsreden
des Johannesevangeliums richten sich an die Jünger in der Zeit ohne
Jesus.
Der Evangelist formuliert dafür einige
Botschaften Jesu so aus, dass die Hörerschaft des Evangeliums
Hinweise für ihr Leben ohne den sichtbaren Herrn an ihrer Seite
findet.
1
Da sagt Jesus zunächst: "Bewahre
sie in deinem Namen …, damit sie eins sind wie wir." (Joh
17,11b) Eins sein, also die Gemeinschaft stärken, ist etwas, das
wohl viele Gruppen in Krisensituationen zusammenhält.
Meine Gedanken gehen dabei zum
Katholikentag in Münster, wo ebenfalls um 10 Uhr der
Abschlussgottesdienst auf dem Schlossplatz stattfindet. Wir können
uns also im Geist dazugesellen, eins sein mit den vielen Feiernden
dort, denn wir feiern den gleichen Gott. Aber wir erleben die
Feiergemeinde natürlich immer anders.
Ich selbst habe Events wie
Katholikentage, Weltjugendtage oder Taizétreffen immer als beseligende Ausnahmezustände erlebt. Viele
Menschen haben sich auf lange Wege gemacht, um miteinander den
Glauben zu vertiefen, zu diskutieren, andere Menschen zu treffen.
Es ist für viele Menschen eine
bestärkende Erfahrung, mal nicht nur die eigene Gemeinde zu erleben,
sondern zu erfahren, dass da auch ganz andere Formen von Gebet,
Gesang und Gemeinschaft sein können – ohne dass dadurch das Eigene
abgewertet wird.
In einer Situation, in der wir Gott
nicht mehr spüren, in der seine Nähe nicht mehr erfahrbar ist,
können auch wir das ja einfach ausprobieren (ohne dafür extra zum
Katholikentag zu fahren), hier in Berlin noch viel leichter als
anderswo: Anstatt gar nicht in die Kirche gehen, einfach mal woanders
hinzugehen, andere Formen, andere Zeiten, andere Räume
auszuprobieren.
Vielleicht spricht Gott dann anders
oder neu zu mir, vielleicht spüre ich ihn ganz tief, wenn ich spüre,
dass ich auch mit anderen Feiernden eine Gemeinschaft sein kann.
Ich erlebe das regelmäßig im
Gefängnis: Die dortigen Gottesdienste sind notgedrungen sehr anders
als die Gemeindegottesdienste. Es sind wenige Leute, es sind
ausschließlich Männer, fast niemand kennt die Lieder, die ich
aussuche, manche kommen vornehmlich wegen des Kaffees und der Kekse,
die es nach dem Gottesdienst gibt, einige versuchen vor allem, mit
anderen in Kontakt zu kommen, die sie sonst nicht sehen oder sich
gegenseitig verbotene Dinge zuzustecken.
Aber auch das ist ein Gottesdienst, und
ich feiere dort sehr gern – denn ich spüre auch dort den
intensiven Wunsch nach der Gemeinschaft mit Gott. Wenn Männer, die
ich aus persönlichen Gesprächen kenne, dann als Fürbitte wortlos
eine Kerze anzünden, dann bin ich oft sehr gerührt. Und auch dort
sind wir Teil der einen großen Gemeinschaft derer, die zu Gott
rufen, die sein Wort hören, die ihm antworten wollen.
Mal anderswo Kirche sein. Inselkirche Neuendorf, Hiddensee, 2017. |
2
Dann spricht Jesus davon, dass die
Jünger "nicht von der Welt" seien (v16)
Sicher haben wir als Christen dieselben
Probleme wie alle anderen Menschen, oftmals benehmen wir uns ja auch
nicht besser, sind also oft genug eben doch "von dieser Welt".
Aber wir können mit unseren Problemen
anders umgehen. Ich nehme mal zwei Beispiele aus meiner persönlichen
Erfahrung der letzten Monate: ich hatte beim hektischen Einsteigen in
eine Straßenbahn mein Portemonnaie verloren. Sehr unangenehm, Anrufe
bei Banken etc. Zum Glück wurde es dann im Fundbüro abgegeben, aber
für ein paar Stunden war ich ganz schön neben der Spur. Und das
zweite Beispiel: in der Karwoche wurde mir mein Fahrrad aus dem
Hinterhof gestohlen. Angeschlossen war es selbstverständlich. Auch
das hat mich erstmal etwas heruntergezogen.
Und ich bin sicher, Situationen dieser
Art kennen Sie auch zu Genüge.
Man fühlt sich dann wahrhaftig nicht
so, dass Gott uns "vor dem Bösen bewahrt", wie
Jesus erbittet (v15). Aber ist so etwas wirklich "das
Böse"? Sind solche Unannehmlichkeiten tatsächlich derartig
hart, dass wir deshalb völlig geknickt sein müssen?
Wir müssen unterscheiden zwischen letzten und vorletzten Dingen, also zwischen dem, was unser Leben wirklich ernsthaft zerstören kann und dem, was eigentlich nur Peanuts sind. Die Beispiele, die ich Ihnen gerade genannt habe, sind keine letzten Dinge! Darüber sollte man einigermaßen leicht hinwegkommen.
Wir müssen unterscheiden zwischen letzten und vorletzten Dingen, also zwischen dem, was unser Leben wirklich ernsthaft zerstören kann und dem, was eigentlich nur Peanuts sind. Die Beispiele, die ich Ihnen gerade genannt habe, sind keine letzten Dinge! Darüber sollte man einigermaßen leicht hinwegkommen.
Ich glaube, wenn Jesus sagt, dass wir
"nicht von der Welt" seien, dann meint er, wir
hätten als Christen einen weiteren Horizont.
"Nicht von der Welt sein"
bedeutet: Wir können solchen Erfahrungen mit Gelassenheit und einer
gesunden inneren Distanz gegenüber stehen.
Leider aber gibt es, auch wenn
man das beherzigt, trotzdem noch genug Situationen, die uns extrem
herausfordern – gesundheitliche Nöte, harte finanzielle Probleme,
der Verlust lieber Angehöriger...
In solchen Fällen habe ich auch keine
Antworten auf die Frage, wie Gott dieses oder jenes zulassen kann.
Ich kann nur hoffen, dass Gott uns
wirklich vor dem letzten Bösen bewahrt, nicht mehr mit ihm in
Gemeinschaft stehen zu wollen. Dass er uns, wie ein guter Hirte
seinen verlorenen Schafen, immer wieder hinterherläuft. Dass er
selbst uns aus den Situationen, in denen er sehr fern scheint, in
denen er einfach weg ist, selbst herausholt.
Dabei hilft das Gebet.
Vielleicht kann man auch sagen: der
Wunsch, sich finden zu lassen – das bedeutet "vor dem Bösen
bewahrt" zu sein, sich trotzdem wünschen, dass Gott da ist,
auch wenn das Leben noch so enttäuscht. Auch wenn es schwer ist,
auch wenn es gerade sehr dunkel ist und überhaupt nicht so scheint,
als würde es irgendetwas bringen – auch und besonders in solchen
Situationen zu beten, kann sehr heilsam sein.
Gesammelte Zeugnisse. Müllrose, 2017. |
3
In der Apostelgeschichte kommt noch
eine andere Seite zum Tragen. Hier wird davon berichtet, dass die
Jünger einen neuen Amtsträger bestellen, als gerade alles den Bach
runterzugehen scheint. Etwas ironisch könnte man formulieren: Kaum
ist Jesus weg, da baut sich die beginnende Kirche schnell neue
Strukturen und beruft durchs Los den Matthias zum Apostel (vgl. Apg1, 15-17.20a.c-26).
Aber tatsächlich geht es genau darum:
Wenn Gott nicht mehr so leicht erfahrbar ist, wenn Gott für unsere
Gesellschaft zu großen Teilen eine Leerstelle ist, gerade dann
braucht es Zeugen. Matthias wird als einer von denen eingeführt,
"die die die ganze Zeit mit uns zusammen waren, als Jesus,
der Herr, bei uns ein und aus ging, angefangen von der Taufe durch
Johannes bis zu dem Tag, an dem er von uns ging und in den Himmel
aufgenommen wurde". (v21f)
Es braucht uns alle – als Menschen,
die Erfahrungen mit Gott gemacht haben.
Als Menschen, die in der Lage und
willens sind, von diesen ihren Erfahrungen zu erzählen, wenn Gott
fort zu sein scheint.
Dazu braucht es kein Los und keine
amtliche Beauftragung.
Nun wird sich nicht jeder gern hier
vorn hinstellen und von seinen Erfahrungen mit Gott berichten.
Mancher wird sich jetzt auch fragen: War da überhaupt was?
Vielleicht kann man aber auch anders
formulieren: Wir sind alle aufgefordert, eine Aufgabe in der Kirche
zu finden, die zu uns passt.
Ich weiß, dass viele von Ihnen hier
oftmals sehr aktiv sind – neulich bin ich vorbeigelaufen, da wurde
der Hof gerade von sehr vielen Leuten gereinigt. Es gibt das
Nachtcafé, den Winterspielplatz, die Kinderkirche, eine Menge
Bereiche, in denen sich viele Menschen einbringen.
Auch das kann ein Zeugnis von Gottes
Liebe zu den Menschen sein. Auch auf diese Weise sind wir Apostel und
Apostelinnen Jesu.
Zusammengefasst also meine
drei(einhalb) Gedanken:
Gott ist zwar weg, aber ...
... die Gemeinschaft miteinander kann
uns aufrichten, vielleicht auch mal an einer anderen Stelle.
... die innere Distanz gegenüber
manchen gar nicht soo wichtigen, vorletzten Dingen dieser Welt kann
uns gelassener machen. Und dort, wo wir wirklich "vom Bösen"
angefochten sind, kann uns der Wunsch, dass wir von Gott gefunden
werden, schon wieder näher zu ihm bringen.
... es kann helfen, dass wir von
unseren Erfahrungen mit Gott erzählen.
Aber, das ist das Tollste, schließlich
ist die Geschichte ja nicht damit vorbei, dass Gott weg ist.
Nächste Woche feiern wir Pfingsten und erinnern uns daran, dass Gott uns ja seinen Geist gesandt hat.
Das bedeutet: Gott kommt wieder! Er ist schon da!
Wir dürfen ihn anrufen, seinen Heiligen Geist neu in unsere Mitte bitten.
Wir dürfen ihn anrufen, seinen Heiligen Geist neu in unsere Mitte bitten.
Spuren des Geistes? Treptower Park, Berlin, 2016. |