Freitag, 22. Juni 2018

Tiefe schlägt Weite. Vom Beten am Meer

Ich knie vor meinem Gott und bete. 

Der Wind zerrt an meiner Jacke, die Gischt spritzt mir ins Gesicht. 
Wieder und wieder spülen Wellen blasiges Wasser vor mich hin und der Sand umschließt meine Unterschenkel warm. Hier habe ich festen Halt. 
Wenn mein Blick über die Brandung hinausgeht, sehe ich das grüne Gewoge der Wellen und ich höre ihr rhythmisches Rauschen. 
Keine Weite, wenig Tiefe. Nur Spiegel.
Seddiner See, 2016.
Vor mir liegt das Meer. 
Das Meer ist mein Horizont. 
Angesichts der Weite des Meeres und seiner beruhigend gleichmäßigen Bewegungen finden viele Menschen in eine spirituelle Stimmung, die ihnen anderswo fehlt. Das Meer ist ein Ort, prädestiniert für religiöse Offenheit, auch wenn gelebte Religion im Alltag sonst eher auf dem Rückzug ist. 
Besonders der scheinbar ins Endlose geweitete Blick inspiriert und öffnet den Geist, schenkt neue Perspektiven. 
Doch Weite ist nicht alles. 

Das Meer zu verstehen heißt in die Tiefe zu gehen, die Oberfläche zu durchdringen und es von innen zu erkunden. 
Ja, die Weite kann berauschend wirken, kann tatsächlich eine Art spirituellen Aufbruch eröffnen. Aber das Meer ist nicht nur Oberfläche, es ist nicht nur friedlich, weit und glatt. 
Vom Strand aus kann ich das Meer nicht erfassen. 

Um das Meer wirklich zu erfahren, muss ich von ihm erfasst werden. Ich muss meine Beobachterposition im Sand verlassen, muss den festen Grund und mit ihm meine Gewissheiten aufgeben. „Duc in altum“ heißt das biblische Stichwort dazu, „Fahr hinaus ins Tiefe!“ (Lk 5,4). 

Gefährlich und dunkel kann das Meer dann sein. Gewalt schlummert unter seiner glatten Oberfläche. Es kann mich verschlingen, hinunterreißen, irgendwann wieder ausspucken und an ein anderes Land spülen. 

Diese Gefahr besteht, wenn ich mich dem Meer aussetze. Ich verliere die Kontrolle und vielleicht mein Leben. Denn das Meer bedeutet nicht nur Urlaub machen, sondern es bedeutet auch Schiffbruch und Tod. 

Aber vom Strand aus, mit dem Blick in die herrliche Weite, finde ich Gott nicht, finde ich nicht das tiefe Meer. 
Während meiner radikalen Gedanken bin ich immer schön im warmen Sand sitzen geblieben. 

Aber beten heißt den Strand zu verlassen und einzutauchen ins Meer. Erst wenn ich keinen Grund mehr spüren kann, bekomme ich eine Ahnung vom Meer, eine Ahnung von Gott. 

Weite, begrenzt vom Bildausschnitt.
Hiddensee, 2018.


Geschrieben auf Hiddensee aus Anlass der Blogparade des Deutschen Historischen Museums „Europa und das Meer. - Was bedeutet mir das Meer?“ #dhmmeer