Dienstag, 12. Juni 2018

Gespalten 3. Das Ideal des Simon Strauß und mein spirituelles Versagen

Die "Sieben Nächte"1 von Simon Strauß schlugen im letzten Jahr richtig ein – da schreibt ein Noch-nicht-Dreißiger an gegen die Gesetztheit und Mentalität der Absicherung, gegen das gepolsterte Leben und allzu anpassungswilligen Pragmatismus. Dagegen setzt er seine Sehnsucht nach mehr, nach einem Mehr an Phantasie, Risikobereitschaft und Empfindsamkeit. Eingebettet in die Geschichte vom Auftrag eines Unbekannten, der ihn in sieben Nächten die sieben Todsünden zu begehen auffordert, sucht der FAZ-Journalist noch einmal neu das radikale Leben, sehnt sich nach "wilderem Denken ... Nach Ideen ohne feste Ordnung, Utopien ohne berechenbaren Sinn, nach Ecken und Kanten".2

Alles verhandelbar?
Maybachufer, Neukölln, Berlin, 2018.
Für dieses gefühlige Rufen nach dem Außergewöhnlichen und die pompöse Verherrlichung von Kraft und Mythos auf Kosten der abwägenden Ratio wurde er aber auch angegriffen.3 Denn mit seinem pathetischen Aufruf zum Schwimmen gegen den Strom und dem Wunsch nach einer neuen großen Erzählung unterfüttere er die Neue Rechte intellektuell.
Ich selbst kann das aus dem Inhalt nicht erkennen (über die Gesellschaft, in die sich der junge Autor dafür begeben hat, wäre zu diskutieren).
Wohl scheinen Strauß intensive Selbsterfahrung und hedonistisches Sich-spüren wichtiger zu sein als soziale Tugenden. Auch das Vokabular, das mit Worten wie Schicksal, Pakt und Reibung angefüllt ist, irritiert mich bisweilen.

Aber das Grundgefühl, dass da noch mehr sein muss als eine geordnete bürgerliche Existenz bieten kann, kenne ich gut.
Vor inzwischen zwölf Jahren wurde ich, damals noch etwas jünger als Simon Strauß beim Abfassen seines Büchleins, als Interessent am Jesuitenorden interviewt und befragt (findet sich leider nicht mehr im Netz). Bei der Lektüre des Strauß-Buches fiel ich mir selbst wieder mit meinen damaligen Sehnsüchten ein: Besonders die Radikalität und Kompromisslosigkeit des Ordenslebens hatten es mir angetan. Dazu die Gelübde von Armut, Ehelosigkeit, Gehorsam. Auch die Heimat- und Bedürfnislosigkeit Jesu faszinierten mich ungeheuer.

Aber nach diversen Schlenkern bin ich inzwischen kirchlicher Angestellter, Familienvater und Mitgentrifizierer eines Berliner Szenebezirks, außerdem gesetzlich krankenversichert und abends meistens zu Hause. Der Plunder stapelt sich, besonders im Kinderzimmer.
Damit bin ich eindeutig in die anstrengend alltägliche Komfortzone gerutscht, in die Simon Strauß niemals will und die ich mir für mich vor Jahr und Tag auch nicht vorstellen konnte.

Dabei bin ich doch jetzt zufrieden. Eine liebevolle Frau, zwei süße Kinder, ein erfüllender Job, alles wunderbar.
Und unterliegt dieser ganzen Aufbruchs- und Freiheitsbesoffenheit nicht eine etwas spätpubertäre Vorstellung von einem Leben aus loderndem Feuer? Ist jene Ganz-und-gar-Mentalität, die auf Abwägung und Ausgleich verzichten will, nicht reichlich naiv?
Oder?

Die Sehnsucht, die Simon Strauß in säkularer Sprache auf den Punkt bringt, hat mich einmal dazu gebracht, mit allem nötigen Gepäck auf meinem Fahrrad in das Noviziat der Jesuiten einzutreten.
Die geistlichen Ideale, die mich dazu brachten, habe ich inzwischen weitestgehend über Bord geworfen. Zu überfordert bin ich durch meinen Alltag mit Arbeit, Familie, sozialen Kontakten, Haushalt. Zu müde. Geistliches Leben kommt da nur noch am Rande vor. Die Radikalität der Liebe, die Ganzhingabe, der Widerstand gegen die Gleichgültigkeit, all das sind nur Floskeln auf einem Blog.
Das Feuer ist verloschen. Kein Blitz leuchtet mehr.

Aber wenn ich Texte wie den von den "Sieben Nächten" an mich heranlasse, dann lodert in mir eine Flamme auf. Auch wenn es bei mir nicht auf die Todsünden hinauslaufen dürfte, sondern in die andere Richtung, der Impuls bleibt derselbe.

Und das ist meine Gespaltenheit: Das große Ideal eines freien, wilden Lebens und Jesu Anspruch der Heiligkeit warten nur hinter einer nahgelegenen Ecke, um meinen kleinteilig geordneten Alltag immer mal wieder mit ihrem Feueratem anzuhauchen.
Die Wucht von Simon Strauß' Kompromisslosigkeit erschüttert etwas in mir.

Zugleich jedoch weiß ich um die tragende Kraft von Routine und Alltag, vertraue auf Verantwortung und unterscheidende Geduld.
Und erinnere mich daran, was ich vor zwei Monaten zufällig beim Propheten Jeremia las: "Ich gedenke deiner Jugendtreue, der Liebe deiner Brautzeit, wie du mir in der Wüste gefolgt bist, im Land ohne Aussaat." (Jer 2,2)
Gottes Erinnerung an meine einst hoch aufflammende Liebe und an meine Bereitschaft, alle Wüsten mit ihm zu durchwandern, legt ein beinahe beruhigendes Polster um meine Seele.

Der große Hammer Sehnsucht.
Nostalgieplakate, Neukölln, Berlin, 2018.


1   S. Strauß, Sieben Nächte. 2. Aufl. Berlin 2017.
2   Ebd., 17.