Samstag, 9. Juni 2018

Von Sinnen. Oder: Es ist die Welt, die völlig daneben ist, nicht wir

Zum Evangelium Mk 3,20-35 vom 10. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr B). Der Predigt erster Teil. (Zweiter Teil hier)

Sie hielten Jesus also für einen Verrückten. Seine Familie behauptet, er sei von Sinnen und will ihn wohl am liebsten einsperren, seine Gegner holen gleich die ganz große Keule raus und erklären, dass er vom Teufel selbst besessen sei.
Wie kamen sie zu diesen Behauptungen?

Ein schmaler Grat.
Spielplatz, Neukölln, Berlin, 2018.
Wenn wir die Evangelien lesen, so wissen wir heute, dass Vieles darin geglättet und im Rückblick sogar verklärt wurde, manche Aussprüche und Begebenheiten fassen Jesu Sprechen und Handeln zusammen, andere Worte wurden ihm in den Mund gelegt und ganz Weniges stammt wohl von ihm selbst.
Was allerdings sicher ist, ist die Tatsache, dass Jesus viele Feinde hatte. Nicht nur sein Tod, sondern auch seine vielen Auseinandersetzungen zuvor zeigen das.

Und wir kennen das ja bis heute: Menschen, die nicht der Norm entsprechen oder irgendwie aus der Reihe tanzen, haben es schwer mit der trägen Masse der Gesellschaft und werden komisch angeschaut oder sogar ausgegrenzt.

Jesus gab sich alle Mühe, aus der Reihe zu tanzen – und seinen Gegnern damit allen Anlass, ihn mindestens für komisch und wirr, wenn nicht sogar für verrückt zu halten:

I. 
Er befasst sich mit den Leuten, die keiner mag, mit den besonders Anstrengenden, den Gefährlichen, den Gefallenen und Zurückgelassenen: Zöllner, Prostituierte, Aussätzige, Nicht-Juden, Kinder, Verrückte und Kranke.
Wer sich so nah an solche Menschen heranwagt, so denkt man noch immer, der ist sicher auch ein bisschen daneben.

II. 
Aber er geht nicht nur nahe ran, sondern er verändert auch viele Menschen. Zöllner geben ihr altes Leben auf, Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein...
Und das ist wirklich verrückt – die alten Ordnungen zerbrechen, er holt Tagelöhner, Kollaborateure, Handwerker, Fromme, Revoluzzer in den Kreis seiner Schüler und fängt mit ihnen ein neues Leben an. Das klingt verrückt – und nicht zuletzt auch gefährlich.

III. 
Er erhebt den Anspruch, im Namen Gottes zu sprechen. Seine Auslegung der Schrift geht über die üblichen Verschärfungen oder Präzisierungen der Schriftkundigen hinaus. Er bezeichnet sich selbst als den Maßstab, der über Sabbat und Tora entscheidet.
Das macht kein vernünftiger Mensch, schon gar nicht in einer religiös geprägten und politisch besetzten Gesellschaft wie dem Israel der Römerzeit.

Kein Wunder also, dass Jesus für verrückt gehalten wird. Alle sind überfordert mit ihm, nicht zuletzt seine Familie.
Für einen Verrückten ist es ja immer die Welt, mit der etwas nicht stimmt – und nicht er selbst. Gegen diese verrückte Welt leistet er Widerstand.

Bei Jesus aber stimmt diese Perspektive tatsächlich – denn mit seinem Verhalten, das nicht richtig in unsere Welt passt, will er ja gerade die neue, "verrückte" Welt Gottes heraufführen.

Verrückte, kaputte Welt.
Neukölln, Berlin, 2016.