Freitag, 1. Juni 2018

Ich entscheide mich nicht! Aufgeklärter Liberaler und kirchentreuer Katholik zugleich

Neulich hatte ich einen Arzttermin. Als wir mit Blick auf meine herumkrabbelnde Tochter darauf kamen, dass ich derzeit in Elternteilzeit bin, freute sich die Ärztin: "Ah, ein fortschrittlicher Arbeitgeber!"
Da konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen: "Ja, ich arbeite für die katholische Kirche."
Woraufhin sie erstaunt und fast entrüstet irgendetwas Relativierendes hinterhersagte.

Dinge zusammenfügen.
Ostdeutsche Platte und Kirche, Halle/Saale, 2016.
Derzeit fällt mir das öfter auf: Da werden in manchen Kreisen oder "der öffentlichen Meinung" Dinge zusammengebracht, die scheinbar zusammengehören müssen – in meinem Fall katholische Kirche und konservativ-zurückgebliebene Lebenswelt. Bestimmte Einstellungen dürfen zusammen auftreten, andere nicht.
Auch wenn es um Demos geht, muss man in den Sozialen Netzwerken nicht lange auf entrüstete Kommentare warten, wenn kirchliche Gruppen zur Teilnahme an Anti-AfD-Demos aufrufen.
Da dürfen in den Augen mancher Leute ebenfalls bestimmte Haltungen nicht zusammengehören.
Ganz aktuell fällt das auf bei dem Offenen Brief von VertreterInnen beider großen Kirchen an die CSU und ihre angeblich christliche und soziale Politik. Wer sich wie und mit welchen Inhalten äußern darf, weiß manch einer ganz genau.

Grundsätzlich gefragt: Welche Meinung darf ich mir erlauben, wenn auch Leute diese Meinung haben, mit denen ich nun wirlich nicht in einem Atemzug genannt werden will?
In was muss ich alles noch eingemeindet werden, wenn ich eine bestimmte Sache bejahe? Welche Eigenschaften gehören angeblich unauflöslich zu einer Eigenschaft, die ich für mich in Anspruch nehme?

Natürlich gibt es hier problematische Entscheidungen, die für jeden anders ausfallen dürften: Ich möchte nicht mit jeder Gruppe zusammen gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit demonstrieren. Ich möchte auch nicht mit allen Leuten beim Marsch für das Leben gesehen werden.
Aber ich möchte die Freiheit haben, beides tun zu können, ohne dass mir dafür die Diskursfähigkeit oder der Glaube abgesprochen wird.

Mir fiel dazu ein Gedanke von Navid Kermani ein, den ich vor einiger Zeit gelesen (und hier zitiert) habe und der auch auf diese Fragestellung passt:
"Ich bin Muslim, ja – aber ich bin auch vieles andere. Der Satz 'Ich bin Muslim' wird also in dem Augenblick falsch, ja geradezu ideologisch, wo ich mich ausschließlich als Muslim definiere – oder definiert werde. Deshalb stört es mich auch, daß die gesamte Integrationsdebatte sich häufig auf ein Für und Wider des Islam reduziert – als ob die Einwanderer nichts anderes seien als Muslime."1
Er fährt später fort, dass viele Muslime vor einem Dilemma stehen, wenn Extremisten im Namen ihrer Religion irgendeine Untat verüben:
"Sie sind in eine Entscheidung gezwungen: Gehörst du zu uns, kannst du nicht zu denen gehören. Die wenigsten Migranten der zweiten oder dritten Generation scheinen diesen Schritt mitzumachen. Sie sehen kritisch, was im Namen des Islam geschieht. Aber sie können nicht einfach die Seiten wechseln. Zur Entscheidung gezwungen, entscheiden sich immer mehr Muslime – aus meiner Sicht – falsch: allein dadurch, dass sie sich für eine Seite entscheiden."2

Auf das Christentum und das Leben im heutigen Deutschland angewandt: Auch ich glaube nicht, dass ich mich entscheiden muss.
Schornstein und Minarett?
Tempelgarten, Neuruppin, 2017.
Ich bin der Meinung, dass es möglich ist, sowohl liberal als auch überzeugt katholisch, sowohl patriotisch als auch glühender Europäer, zugleich aufgeklärter Demokrat als auch kirchentreuer Katholik zu sein. 
Die Tatsache, dass mir der Lebensschutz und eine offene Gesellschaft wichtig sind, bedeutet nicht, dass ich mich mit jeder konservativen oder liberalen Haltung gemein mache. Aber mein Glaube zwingt mich auch nicht in einen Lebensentwurf, der meiner Lebenshaltung nicht entspricht.
Sowohl mit progressiven Freiheitsverprechen als auch mit konservativen Werthaltungen kann ich mich kritisch auseinandersetzen. Engstirnigkeit und Fundamentalismus brauche ich nicht, weder auf der einen noch auf der anderen Seite.

Ich muss nicht mit jedem gehen. Aber ich kann Dinge in mir vereinen – und das auch intellektuell rechtfertigen –, die zusammen zu denken andere mir nicht immer zugestehen.



1   N. Kermani, Wer ist wir? Deutschland und seine Muslime. München 4. Aufl. 2015, 19.
2   Ebd., 93.