Mittwoch, 20. Juni 2018

Elternschaft und Mord

Weil Sommer ist, beschränke ich mich einstweilen auf hilfreiche Inspirationen anderer Leute.
Der folgende Text findet sich in der raffinierten und irritierenden Biographie Gottes von Jack Miles; passenderweise führt er das Kapitel über Abraham und seine Versuchung (Gen 22) ein.

Ethisch könnte es so aussehen, als liege ein abgrundtiefer Unterschied zwischen Elternschaft und Mord; dieser ist ein Verbrechen, jene ist einfach ein moralisch neutrales Faktum. Psychologisch jedoch sind die beiden so miteinander verknüpft, wie Leben und Tod verknüpft sind.

Mit "Gott" unterwegs.
Hiddensee, 2018.
Fruchtbarkeit verhält sich zu Unfruchtbarkeit wie Leben zu Tod. Die Kontrolle über das positive Glied in beiden Paaren impliziert die Kontrolle über das negative. Wenn also Gott den Menschen Fruchtbarkeit verleiht und wenn der Mensch danach über seine Fruchtbarkeit herrscht, dann hat der Mensch auch die Herrschaft über die Unfruchtbarkeit. Diese Macht, die Macht, darüber zu entscheiden, wer geboren wird, gehört in dieselbe Kategorie wie die Macht zu entscheiden, wer sterben wird.1

Es ist also, wie so oft, eine Frage der Hinsicht, unter der etwas betrachtet wird.
Und trotzdem wirkt die Zusammenstellung anstößig. Wobei doch jeder, der sich schon einmal mit Geburtenkontrolle beschäftigt hat, weiß, dass sie so weit nicht hergeholt ist.

Obwohl also Gott dem Menschen den Auftrag gegeben hat, fruchtbar zu sein und ihn in die Spannung von Leben zeugen oder nicht zeugen gestellt hat, ist ihm doch der Mord untersagt. Eine (mindestens) psychologische Dilemmasituation.


1   J. Miles, Gott. Eine Biographie. 3. Aufl. München 2000, 63.