Wer will dort schon hin? –
Mitten in der Provinz, nicht in der Stadt, nicht mal auf dem Dorf,
sondern irgendwo außerhalb der menschlichen Siedlungen in einem
heruntergekommenen Stall kommt das Kind zur Welt, das die Welt retten
soll.
Wer will hier schon hin? –
Keine Privatsphäre, kein Lieblingsessen, kein Internet, kein
S-Bahnhof, keine Familienzimmer, keine Weihnachtsamnestie. Hier
müssen Sie Weihnachten verbringen, im Haftkrankenhaus am Rande des
Berliner S-Bahnrings, direkt neben der Stadtautobahn.
Aber was soll ich Ihnen
sagen? Das, was Sie sich nicht ausgesucht haben, hat Gott sich
ausgesucht.
Wenn Sie sagen: Ich will
hier raus! - muss ich Ihnen antworten: Gott will hier rein.
Himmel vor den Gitterfenstern. Plötzensee, Berlin, 2019. |
Gott will als kleines Kind
in der Welt ankommen und er geht dorthin, wo es weh tut. In Armut und
Not, in eine nicht gerade perfekte Familiensituation, in eine Zeit
der Unterdrückung durch die Römer ist er damals gekommen, als er in
Bethlehem von Maria geboren wurde (vgl. Lk 2,1-14).
Und auch heute ist das
noch so: Alles das, wovor wir fliehen, sucht Gott.
Dort, wo wir uns von den
Mächtigen klein gemacht fühlen, wo wir uns abwenden vor der Not
unserer Nächsten, wo wir voller Angst sind vor dem nächsten Urteil
oder dem nächsten Streit mit den Kollegen aus der Zelle nebenan.
Ja, er kommt sogar ganz
allgemein in unser Gefangensein: denn bisweilen fühlen wir uns ja
wie gefangen in diesem zeitlich sehr begrenzten Leben, in unseren
Gedanken und Gefühlen, in unserer Biographie, in vielerlei Umständen
– und nicht zuletzt in diesem Haftkrankenhaus.
Überall dorthin geht
Gott.
Das nämlich sagt
Weihnachten aus: Wir glauben nicht an einen Gott, der weit entfernt
und unberührt von allen menschlichen Nöten in seinem Himmel sitzt,
sondern wir glauben an einen Gott, der mitten in der Welt gegenwärtig
sein will.
Und die Welt, das wissen
Sie so gut wie ich, ist nicht immer besonders freundlich.
Einsamkeit, Bedrohung,
Hunger, Kälte, Unterdrückung, Demütigung, Angst, Sorgen, Ärger –
würde ich Gott empfehlen, Mensch zu werden? Nach dem, was ich nur in
meinem engeren Umfeld wahrnehmen kann, wahrscheinlich eher nicht. Und
da sind die großen politischen Fragen noch gar nicht berührt.
Doch Gott kommt in diese
kaputte Welt hinein.
Allerdings kommt er nicht
als großer Zampano, nicht als Zauberer, der nun alles auf einen
Schlag gerade rückt, nicht als der Messias, vor dem sich automatisch
alle zu Boden werfen.
Das machtvoll Erhabene ist
nicht sein Stil. In der Lesung haben wir es gehört: "Jeder
Stiefel, der dröhnend daherstampft, jeder Mantel, im Blut gewälzt,
wird verbrannt, wird ein Fraß des Feuers." (Jes 9,4) Stampfende Stiefel und blutbefleckte Mäntel sind Gottes Sache nicht.
Militärische Macht und
blutige Gewalt sind nicht der Weg Gottes.
Nein, Gott kommt als
kleines Kind. Er kommt schutzlos und wehrlos. Macht sich verletzlich.
Die Theologin Hildegund Keul betont deshalb: "Das
Weihnachtsfest macht 'Verwundbarkeit' zum Schlüsselwort christlicher
Gottesrede."1
Denn Gott will genau das,
was wir nicht wollen: verletzlich und verwundbar sein.
Das weitere Leben Jesu
zeigt das sehr deutlich: Er wird nicht nur begeistert angehört,
sondern erfährt von Beginn an auch Ablehnung (vgl. Mk 3,6; Joh
1,11).
Jesus ist kein Superheld
wie Wolverine, dessen Wunden so unheimlich schnell heilen, er ist
auch kein Sunnyboy, dem alle Herzen zufliegen, er schießt auch nicht
sofort zurück wie ein Donald Trump, sondern er hält es aus,
kritisiert und verletzt zu werden.
Schließlich gehört auch
das Kreuz eng zu diesem Weg, auf dem sich Gott in Jesus verletzlich
macht. Hier vorn am Altar steht deshalb nicht nur die Krippe, sondern
auch das Kreuz.
Die göttliche
Verletzbarkeit, das können wir an diesem Nebeneinander hier im Raum
gut sehen, zieht sich wie ein roter Faden von der Krippe bis zum
Kreuz.
Denn Gott geht an
Weihnachten, so Hildegund Keul, das "Wagnis der
Verwundbarkeit" ein.2
Doch das ist etwas, das
wir Menschen normalerweise vermeiden möchten. Warum sollten wir
etwa riskieren, verletzt zu werden und zu Schaden zu kommen?
Natürlicherweise
verbergen wir unsere verwundbaren Seiten und geben kein Angriffsziel
ab. Gerade hier in Haft ist das wichtig, um nicht ausgenutzt oder
vorgeführt oder fertiggemacht zu werden. Wir müssten schon einen
sehr guten Grund haben, uns verletzlich zu zeigen.
Aber auch bei der
Verletzlichkeit gilt: Wir wollen da raus – Gott will da rein!
Und dafür hat Gott gute Gründe. Vielleicht können wir uns
an Weihnachten anschauen, warum Gott sich verletzlich zeigt, um zu
verstehen, was daran Gutes sein kann.
Verletzlich? Hiddensee, 2018. |
Eine erste Antwort
lautet: Verletzlichkeit schafft Nähe.
Das Kind in der Krippe ist
so wehrlos, dass es ein ganz natürlicher Impuls ist, sich ihm
liebevoll zu nähern. Auch Tiere haben diesen Impuls offensichtlich,
wenn sie ein menschliches Neugeborenes finden und es nicht fressen,
sondern versorgen.
Ganz allgemein lässt sich
sagen: Nur wenn wir in einer offenen Haltung auf andere zugehen,
kommen wir uns gegenseitig wirklich nahe. Aber unter Umständen
können wir auch verletzt werden, wenn wir uns jemandem auf diese
Weise nähern.
Eine zweite Antwort
lautet jedoch auch (in Anlehnung an Gedanken von Hildegund Keul):
Verletzlichkeit scheidet –
in jene, die aggressiv reagieren und in jene, die sich kümmern.
Wie wir den
Weihnachtsgeschichten entnehmen können, gibt es genug Menschen, die
die Verletzlichkeit Anderer brutal ausnutzen – wie der Kindermörder
Herodes, der keinen möglichen "König" neben sich dulden
will. Und es gibt jene, die einfach nicht wahrhaben wollen, dass ihre
Hilfe gefragt ist – wie die Leute, die keine Herberge für die
hochschwangere Frau hatten.3
Wieder andere sind
vielleicht einfach nur hilflos und tun lieber nichts als auf jemanden
zuzugehen, der verwundbar ist – gerade für Kranke ist es ja
manchmal sehr anstrengend, dass niemand mit ihrer Schwäche umgehen
kann.
Doch hierher will Gott
kommen. Dorthin, wo Menschen brutal oder ablehnend oder hilflos sind.
Und die dritte
Antwort geht hier sogar noch einen Schritt weiter:
Die Verletzlichkeit kann
eine Änderung hervorrufen. Es gibt ja nicht nur die Guten, die Nähe
immer zulassen, und die Bösen, die immer aggressiv oder ablehnend
sind.
Wir Menschen sind ja in
der Lage, auch anders zu reagieren als wir es intuitiv tun würden. Wir sind unseren Instinkten und
spontanen Neigungen, unseren psychischen und sozialen Vorgaben nicht
einfach ausgeliefert.
Wir können nämlich in
uns Mitleid wach werden lassen. Selbst wenn wir nicht verstehen,
warum jemand (auf einmal so) verletzlich und verwundbar ist, können
wir ihm mit einem weiten Herzen begegnen, auch wenn uns nicht danach
ist. Hier im Krankenhaus ergeben sich viele Möglichkeiten dafür,
auch wenn ich weiß, dass die Gefahr des Ausgenutztwerdens und die
Angst davor hier besonders groß sind.
Trotzdem glaube ich, dass
die Verletzlichkeit, die wir wahrnehmen, uns ändern kann. Auch
dadurch, dass wir uns erinnern, wie verletzlich wir selbst manchmal
sind.
Und auch Gottes
Verletzlichkeit ändert etwas.
Und das ist die vierte
Antwort, warum Gott sich verletzlich zeigt: Er bringt den
Himmel mit.
Indem Gott Mensch wird,
verbinden sich Himmel und Erde. Der Himmel ist hier, weil
Gott ja auch hier war.
Darum lässt sich der
Himmel sogar hinter Gittern finden. Das sehen Sie auf diesem Bild,
das ich dieser Tage drüben im Vollzug in Plötzensee gefunden habe
und das für mich ein wunderbares Weihnachtsbild ist.
Der Himmel ist hier innerhalb der Gitter schon da, nicht erst draußen. Die Gitter können die
Gegenwart Gottes nicht aussperren. Und zwar genau darum, weil Gott
einer von uns und damit genauso klein und verwundbar geworden ist.
In alle Gefängnisse hinein! Linum, 2018. |
Wenn wir Gott in der
menschlichen Verletzlichkeit finden können, wollen wir vielleicht
immer noch nicht hinein in diese Verletzlichkeit, aber wir können
sie vielleicht anders ansehen.
Und noch viel besser: Wir
können unser vielfältiges Gefangensein anders ansehen.
Wenn Gott mit seinem
Himmel in unsere vielen Gefängnisse hereinkommt, verändert sich
etwas darin. Auch wenn sich nicht plötzlich alles um 180 Grad drehen
wird, so können wir doch innerlich ein Gefühl der Befreiung
erleben, weil wir wissen: Gott ist da. Er geht mit.
Er hat das Gefangensein
selbst erlebt, das metaphorische ebenso wie das ganz praktische, als
er verhaftet wurde und im Gefängnis auf seinen Prozess vor Pilatus
warten musste.
Und auch er wäre lieber
draußen geblieben (vgl. Lk 22,42), aber er ist hineingegangen, aus
Liebe. Diese Liebe ist es, die ihn am verletzlichsten gemacht hat.
Und diese Liebe wünsche
ich auch Ihnen für Weihnachten und darüber hinaus.
Dass Sie den Mut dazu
haben, auch zu Ihrer Verwundbarkeit zu stehen.
Dass Sie Menschen werden,
die auf die Verletzlichkeit anderer nicht brutal oder ablehnend
reagieren, sondern sich verändern lassen.
Dass Sie sich immer wieder
daran erinnern, dass Gottes Himmel schon mitten unter uns ist.
Auch hier im Gefängnis.
1 H.
Keul, Weihnachten. Das Wagnis der Verwundbarkeit. 3. Aufl.
Ostfildern 2017, 11.
2 Vgl.
zum Ganzen ebd.
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