Donnerstag, 27. September 2018

Das schreckliche Schwanken. "Der Vogelgott" von Susanne Röckel

Ich wusste vorher nicht, was mich bei der Lektüre dieses Romans "Der Vogelgott"1 erwartet – aber ich wurde nicht enttäuscht.

Susanne Röckel hat in dunklen Farben die Geschichte dreier Geschwister gemalt, die in unterschiedlicher Weise einer geheimnisvollen Religion auf die Spur kommen.

Da ist zunächst Thedor, der jüngste der drei, der sonst nie etwas auf die Reihe bekommt. Ausgerechnet er macht sich auf den Weg in die weitgehend unbekannte Region der Aza, um dort humanitäre Hilfe zu leisten – verführt durch einen faulig riechenden und doch charismatischen Unbekannten, der ihm den Eindruck vermittelt hatte, gerade er sei dort besonders vonnöten. In der Fremde angekommen scheint es zunächst, als sei er vergessen worden.

Kurz vor dem Absturz.
Charlottenburg, Berlin, 2018.
Es mehren sich Ungereimtheiten: als Thedor schließlich auf eigene Faust ins Landesinnere weiterreist und am Zielort ankommt, begegnet man ihm mit Gleichgültigkeit und Ablehnung. Seine Aufgaben scheinen völlig sinnlos zu sein und er selbst das Feigenblatt für ausländische Geldgeber – bis plötzlich Männer mit Vogelmasken auf der Station auftauchen.

Anders – und zugleich ganz ähnlich – ergeht es Dora, die als Künstlerin gescheitert ist und beginnt, eine kunsthistorische Dissertation über einen lokalen Künstler aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges zu schreiben. Dabei entfernt sie sich nicht nur immer weiter von ihrem Mann, sondern gerät auch in den Sog ihrer Kindheitserinnerungen. In manchen Momenten blitzt der Anschein einer größeren Erkenntnis auf, in deren Hintergrund scheinbar eine brutale Religion von Engeln und Vögeln steht. Auch Dora begegnet einem verwirrenden Mann mit einem ganz ähnlichen Namen wie ihr Bruder, auch er riecht etwas streng und hat gleichzeitig ein Charisma, das zugleich beeindruckt und einlullt. Eigene Gedanken zu fassen fällt in seiner Gegenwart schwer. Noch Tage später zeichnet Dora wie im Wahn immer wieder Vogelflügel.

Schließlich Lorenz, der älteste und erfolgreichste der drei Geschwister, der in seinem Leben an einem Punkt angekommen ist, wo es nicht weiterzugehen scheint. Als Reporter, der er gegen den Willen des Vaters wurde, bekommt er es mit Kindern zu tun, die urplötzlich panische Angst vor allem bekommen, was am Himmel fliegt. Und auch hier weisen viele Spuren auf uralte Kulte, in denen es um Vögel geht. Beim Gespräch mit demselben machtvollen Unbekannten muss er immer wieder dessen Hand anschauen, "eine derbe, schwarz beharrte Hand, die den größten Gegensatz bildete zu seinem glatt rasierten lächelnden Gesicht, den flüssigen und kultivierten Worten, die aus seinem Munde strömten."2

Die Religion, deren Umrisse sich in allen drei Teilen des Romans von verschiedenen Seiten her andeuten, hat tatsächlich beide Seiten – die hoch aufschwingende und befreiend wirkende Rede von Intensität und Vollendung, von Wissen und dem Außergewöhnlichen in jedem Menschen und zugleich die Rohheit und Gewalt, die blanke Physis, aus der Trieb und Mordlust kommen.
Bisweilen gleicht die Darstellung dieser fiktiven Vogel-Religion einer körperlich spürbaren Krankheit, sie ist wie eine Besetzung des Menschen mit schlechten Gedanken.
Die Protagonisten werden eine Zeit lang völlig von einer Sache in Anspruch genommen und haben äußerst intensive Empfindungen, dann wieder verlieren sie völlig ihre Motivation und Konzentration. Visionen, psychische Krankheiten und überirdische Erfahrungen haben scheinbar ihre Spuren hinterlassen.

Das alles wird aus der Ich-Perspektive erzählt, so dass sich das Panorama nur langsam und aus Sicht des jeweils im Vordergrund Stehenden entfaltet. Die ständigen Schwankungen an Emotion und Ehrgeiz werden so spürbar – und zugleich bleiben viele Informationen nur vage und wie in der Schwebe.

Vielleicht berührt mit ihrer Geschichte Susanne Röckel etwas, das Religion in vielen Fällen ausmacht: da ist Faszination einerseits und Schrecken andererseits, Sehnsucht nach Macht, der Verlust aller bisherigen Wertsetzungen, verwaschene Vorstellungen der eigenen Erfahrungen und Empfindungen, aber auch Kindheitserinnerungen und Träume.
Auch die Modi der Religionserschließung hat die Autorin weit gestreut: Die Sehnsucht nach der Ferne bei Thedor und der Griff nach der Kunst bei Dora gehören ebenso dazu wie Lorenz' Suche nach der Wahrheit.
Viel Positives und viel Negatives liegt in diesem Roman unklar nebeneinander – doch ist, bei allem Schweben, in jedem Moment klar, dass einige gute Intentionen und ein paar positiv klingende Botschaften angesichts des übergriffigen Machtgehabes und der augenscheinlichen Brutalität der Anhänger dieser fremden Religion nichts Gutes von ihnen ausgeht. Dazu kommt die eigenartige Rolle der Familiengeschichte, die an vielen Ecken und Enden wieder hervorbricht.

So lässt einen der Roman zwar in vielen Einzelaspekten der geheimnisvollen Kulte und Glaubensinhalte etwas ratlos zurück, aber zugleich ist er durch sein Schreckbild des Religiösen eine Warnung an alle, die heute einer der etablierten Religionen angehören.

Drache als Warnung.
Tempelhofer Feld, Berlin, 2018.



1   S. Röckel, Der Vogelgott. Salzburg und Wien 2018.

2   Ebd., 214.