Ich wusste vorher nicht, was mich
bei der Lektüre dieses Romans "Der Vogelgott"1
erwartet – aber ich wurde nicht enttäuscht.
Susanne Röckel hat in
dunklen Farben die Geschichte dreier Geschwister gemalt, die in
unterschiedlicher Weise einer geheimnisvollen Religion auf die Spur
kommen.
Da ist zunächst Thedor,
der jüngste der drei, der sonst nie etwas auf die Reihe bekommt.
Ausgerechnet er macht sich auf den Weg in die weitgehend unbekannte
Region der Aza, um dort humanitäre Hilfe zu leisten – verführt
durch einen faulig riechenden und doch charismatischen Unbekannten,
der ihm den Eindruck vermittelt hatte, gerade er sei dort besonders
vonnöten. In der Fremde angekommen scheint es zunächst, als sei er
vergessen worden.
Kurz vor dem Absturz. Charlottenburg, Berlin, 2018. |
Anders – und zugleich
ganz ähnlich – ergeht es Dora, die als Künstlerin gescheitert ist
und beginnt, eine kunsthistorische Dissertation über einen lokalen
Künstler aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges zu schreiben.
Dabei entfernt sie sich nicht nur immer weiter von ihrem Mann,
sondern gerät auch in den Sog ihrer Kindheitserinnerungen. In
manchen Momenten blitzt der Anschein einer größeren Erkenntnis auf,
in deren Hintergrund scheinbar eine brutale Religion von Engeln und
Vögeln steht. Auch Dora begegnet einem verwirrenden Mann mit einem
ganz ähnlichen Namen wie ihr Bruder, auch er riecht etwas streng und
hat gleichzeitig ein Charisma, das zugleich beeindruckt und einlullt.
Eigene Gedanken zu fassen fällt in seiner Gegenwart schwer. Noch
Tage später zeichnet Dora wie im Wahn immer wieder Vogelflügel.
Schließlich Lorenz, der
älteste und erfolgreichste der drei Geschwister, der in seinem Leben
an einem Punkt angekommen ist, wo es nicht weiterzugehen scheint. Als
Reporter, der er gegen den Willen des Vaters wurde, bekommt er es mit
Kindern zu tun, die urplötzlich panische Angst vor allem bekommen,
was am Himmel fliegt. Und auch hier weisen viele Spuren auf uralte
Kulte, in denen es um Vögel geht. Beim Gespräch mit demselben
machtvollen Unbekannten muss er immer wieder dessen Hand anschauen,
"eine derbe, schwarz beharrte Hand, die den größten
Gegensatz bildete zu seinem glatt rasierten lächelnden Gesicht, den
flüssigen und kultivierten Worten, die aus seinem Munde strömten."2
Die Religion, deren Umrisse sich in allen drei Teilen des Romans von verschiedenen Seiten her andeuten, hat tatsächlich beide Seiten – die hoch aufschwingende und befreiend wirkende Rede von Intensität und Vollendung, von Wissen und dem Außergewöhnlichen in jedem Menschen und zugleich die Rohheit und Gewalt, die blanke Physis, aus der Trieb und Mordlust kommen.
Bisweilen gleicht die
Darstellung dieser fiktiven Vogel-Religion einer körperlich
spürbaren Krankheit, sie ist wie eine Besetzung des Menschen mit
schlechten Gedanken.
Die Protagonisten werden
eine Zeit lang völlig von einer Sache in Anspruch genommen und haben
äußerst intensive Empfindungen, dann wieder verlieren sie völlig
ihre Motivation und Konzentration. Visionen, psychische Krankheiten
und überirdische Erfahrungen haben scheinbar ihre Spuren
hinterlassen.
Das alles wird aus der
Ich-Perspektive erzählt, so dass sich das Panorama nur langsam und
aus Sicht des jeweils im Vordergrund Stehenden entfaltet. Die
ständigen Schwankungen an Emotion und Ehrgeiz werden so spürbar –
und zugleich bleiben viele Informationen nur vage und wie in der
Schwebe.
Vielleicht berührt mit
ihrer Geschichte Susanne Röckel etwas, das Religion in vielen Fällen
ausmacht: da ist Faszination einerseits und Schrecken andererseits,
Sehnsucht nach Macht, der Verlust aller bisherigen Wertsetzungen,
verwaschene Vorstellungen der eigenen Erfahrungen und Empfindungen,
aber auch Kindheitserinnerungen und Träume.
Auch die Modi der
Religionserschließung hat die Autorin weit gestreut: Die Sehnsucht
nach der Ferne bei Thedor und der Griff nach der Kunst bei Dora
gehören ebenso dazu wie Lorenz' Suche nach der Wahrheit.
Viel Positives und viel
Negatives liegt in diesem Roman unklar nebeneinander – doch ist,
bei allem Schweben, in jedem Moment klar, dass einige gute
Intentionen und ein paar positiv klingende Botschaften angesichts des
übergriffigen Machtgehabes und der augenscheinlichen Brutalität der
Anhänger dieser fremden Religion nichts Gutes von ihnen ausgeht. Dazu kommt die eigenartige Rolle der Familiengeschichte, die an vielen Ecken und Enden wieder hervorbricht.
So lässt einen der Roman
zwar in vielen Einzelaspekten der geheimnisvollen Kulte und
Glaubensinhalte etwas ratlos zurück, aber zugleich ist er durch sein
Schreckbild des Religiösen eine Warnung an alle, die heute einer der
etablierten Religionen angehören.
Drache als Warnung. Tempelhofer Feld, Berlin, 2018. |
1 S.
Röckel, Der Vogelgott. Salzburg und Wien 2018.
2 Ebd.,
214.