Um 1170 schrieb die heutige
Tagesheilige Hildegard von Bingen an Abt Werner von Kirchheim von
einer Vision der Kirche in der Gestalt einer Frau.
Ihre Beschreibung der
Kirchenverschmutzung durch ihre eigenen Amtsträger passt ganz gut
zur heutigen Lage.
Hier ein Auszug:
Kaputte Ausstattung. Dreikönigskirche, Dresdener Neustadt, 2017. |
"Als ich im Jahre 1170 der
Menschwerdung Christi lange auf dem Krankenbett lag, aber geistig und
körperlich wach war, erblickte ich eine weibliche Gestalt. Es war
ein wunderbares Bild, so schön, so lieblich und so reizend, dass
sich der menschliche Verstand davon keinen Begriff machen kann. So
groß war die Gestalt, dass sie von der Erde bis zum Himmel
hinaufreichte. Ihr Antlitz leuchtete mit höchstem Glanz und ihre
Augen schauten zum Himmel. Sie war bekleidet mit einem sehr hellen
Gewand aus weißer Seide und mit einem Mantel, der mit den
kostbarsten Steinen, nämlich Smaragden, Saphiren und kleinen und
großen Perlen verziert war. An den Füßen hatte sie Schuhe wie aus
Onyx.
Ihr Gesicht war mit Staub bestreut
und ihr Kleid an der rechten Seite zerrissen. Hier hatte auch der
Mantel seine liebliche Schönheit eingebüßt und das Schuhwerk war
schwarz geworden. Mit lauter und trauervoller Stimme schrie sie zum
Himmel empor und sprach: Höre es, Himmel, dass mein Gesicht besudelt
ist! Erde, trauere, dass mein Kleid zerrissen ist! Abgrund erzittere,
dass meine Schuhe schwarz geworden sind!"
Anschließend zählt sie die Heilsgaben
auf, die sie von Gott empfangen hat und fährt dann fort, den Grund
ihrer Verschmutzung zu beklagen:
"Aber meine Pfleger, die
Priester, die mein Gesicht leuchtend wie das Morgenrot, mein Gewand
schimmernd wie den Blitz, meinen Mantel strahlend wie Edelsteine und
meine Schuhe glänzend machen sollten, haben über mein Gesicht Staub
gestreut, mein Kleid zerrissen, meinen Mantel dunkel und meine Schuhe
schwarz gemacht. Obwohl sie überall meinen Schmuck hätten erhöhen
sollen, haben sie mich in allem im Stich gelassen.
Mein gesicht aber besudelten sie
dadurch, dass sie den Leib und das Blut meines Bräutigams durch die
Unreinheit und Schlüpfrigkeit ihrer Sitten, durch den Schmutz der
Hurerei und des Ehebruchs, durch schlimmen Raub, Geiz und durch Kauf
und Verkauf entweihen und so niederträchtig behandeln, was sie
empfingen."1
Es folgen sehr ausführlich weitere
Sünden der Geistlichkeit und die prophetische Androhung einer
Strafe.
Etwas problematisch finde ich
insgesamt, dass die Vision, darin ganz Kind ihrer Zeit, sehr
einseitig das Leiden der Kirche an ihren Geistlichen beschreibt –
die Opfer des Tuns der Kirchenmänner aber waren nicht im Blick.
Trotzdem bietet der Text eine
eindrückliche Erinnerung daran, welchen Schaden die schrecklichen
Taten derer, die in der Kirche Verantwortung tragen sollten, für die
Kirche bedeuten.
Alles kaputt. Müllrose, 2017. |
1 Hildegard
von Bingen, Weisheit in göttlicher Liebe. Texte aus dem Gesamtwerk.
Köln 2010, 228f.