Montag, 17. September 2018

"Ihr Gesicht war mit Staub bestreut" Hildegard von Bingen über die Schande der Kirche.

Um 1170 schrieb die heutige Tagesheilige Hildegard von Bingen an Abt Werner von Kirchheim von einer Vision der Kirche in der Gestalt einer Frau.
Ihre Beschreibung der Kirchenverschmutzung durch ihre eigenen Amtsträger passt ganz gut zur heutigen Lage.
Hier ein Auszug:

Kaputte Ausstattung.
Dreikönigskirche, Dresdener Neustadt, 2017.
"Als ich im Jahre 1170 der Menschwerdung Christi lange auf dem Krankenbett lag, aber geistig und körperlich wach war, erblickte ich eine weibliche Gestalt. Es war ein wunderbares Bild, so schön, so lieblich und so reizend, dass sich der menschliche Verstand davon keinen Begriff machen kann. So groß war die Gestalt, dass sie von der Erde bis zum Himmel hinaufreichte. Ihr Antlitz leuchtete mit höchstem Glanz und ihre Augen schauten zum Himmel. Sie war bekleidet mit einem sehr hellen Gewand aus weißer Seide und mit einem Mantel, der mit den kostbarsten Steinen, nämlich Smaragden, Saphiren und kleinen und großen Perlen verziert war. An den Füßen hatte sie Schuhe wie aus Onyx.
Ihr Gesicht war mit Staub bestreut und ihr Kleid an der rechten Seite zerrissen. Hier hatte auch der Mantel seine liebliche Schönheit eingebüßt und das Schuhwerk war schwarz geworden. Mit lauter und trauervoller Stimme schrie sie zum Himmel empor und sprach: Höre es, Himmel, dass mein Gesicht besudelt ist! Erde, trauere, dass mein Kleid zerrissen ist! Abgrund erzittere, dass meine Schuhe schwarz geworden sind!"
Anschließend zählt sie die Heilsgaben auf, die sie von Gott empfangen hat und fährt dann fort, den Grund ihrer Verschmutzung zu beklagen:
"Aber meine Pfleger, die Priester, die mein Gesicht leuchtend wie das Morgenrot, mein Gewand schimmernd wie den Blitz, meinen Mantel strahlend wie Edelsteine und meine Schuhe glänzend machen sollten, haben über mein Gesicht Staub gestreut, mein Kleid zerrissen, meinen Mantel dunkel und meine Schuhe schwarz gemacht. Obwohl sie überall meinen Schmuck hätten erhöhen sollen, haben sie mich in allem im Stich gelassen.
Mein gesicht aber besudelten sie dadurch, dass sie den Leib und das Blut meines Bräutigams durch die Unreinheit und Schlüpfrigkeit ihrer Sitten, durch den Schmutz der Hurerei und des Ehebruchs, durch schlimmen Raub, Geiz und durch Kauf und Verkauf entweihen und so niederträchtig behandeln, was sie empfingen."1

Es folgen sehr ausführlich weitere Sünden der Geistlichkeit und die prophetische Androhung einer Strafe.

Etwas problematisch finde ich insgesamt, dass die Vision, darin ganz Kind ihrer Zeit, sehr einseitig das Leiden der Kirche an ihren Geistlichen beschreibt – die Opfer des Tuns der Kirchenmänner aber waren nicht im Blick.

Trotzdem bietet der Text eine eindrückliche Erinnerung daran, welchen Schaden die schrecklichen Taten derer, die in der Kirche Verantwortung tragen sollten, für die Kirche bedeuten.

Alles kaputt.
Müllrose, 2017.


1   Hildegard von Bingen, Weisheit in göttlicher Liebe. Texte aus dem Gesamtwerk. Köln 2010, 228f.