Samstag, 8. September 2018

"Ich atme nicht ohne die Stimme" Hilde Domin und der Atem des Lebens

Atem trägt Leben weiter.
Linum, 2018.
"Deine Stimme, die mich umarmt hat,
es ist viele Tage her,
ich habe jeden Tag
ein kleines Stück von ihr gegessen,
ich habe viele Tage
von ihr gelebt."

So umsingt Hilde Domin in ihrem Gedicht "Magere Kost"1 die vertraute Stimme eines geliebten Menschen. Die ganze Beziehung ist aufgehoben in dieser Stimme, sie ist reich an Vertrauen und Würde, an Liebe und Stärkung.
In der Erinnerung an diese Stimme lag die Kraftquelle der Erinnernden; so weit, dass sie ganz aus dieser Beziehung lebte:

"So wenig, so viel
wie die Stimme,
die mich in den Arm nimmt,
mußt du mir lassen.
Ich atme nicht
ohne die Stimme."

Wenn Jesus im heutigen Sonntagsevangelium (Mk 7,31-37) einen Taubstummen heilt, dann befreit er ihn aus der Isolation der Stimmlosigkeit, aus der Einsamkeit, die niemanden kennt, der "mich in den Arm nimmt".
Und er schenkt ihm mit dem Hören und Sprechen neu den Atem des Lebens.

Heilungserzählung und Erinnerungsgedicht berichten beide davon, dass Leben gelingt im vertrauensvollen Wissen darum, dass einer mich hört, dass einer zu mir spricht.

Heilung besteht auch heute in der Umkehr zu diesem Vertrauen, dass da einer voll Liebe den Kontakt mit mir sucht und mir dafür Mund und Ohren öffnet.


1   In: H. Domin, Die Rückkehr der Schiffe. Gedichte. Frankfurt a.M. 1994, 18.