"Es sind zu viele Juden im Zug,
dachte Silbermann."1
Das sagt kein Antisemit, sondern die
Hauptperson in Ulrich A. Boschwitz' wiederentdeckten und in diesem
Jahr erstmals herausgegebenen Roman "Der Reisende".
Silbermann, wohlhabender Unternehmer im Deutschland der 1930er Jahre
ist selbst Jude und, wie der Titel verrät, auf Reisen. Dies ist er
jedoch nicht zum Vergnügen, sondern Silbermann befindet sich auf der
Flucht. Er ist in den Strudel der nationalsozialistischen
Machtdemonstrationen und Ausschreitungen jener Jahre geraten und sieht
sein gesamtes bisheriges Leben zerstört.
Vom ehemaligen Geschäftspartner wurde
er über den Tisch gezogen, SA-Schlägertrupps haben seine Wohnung
verwüstet, seine Frau ist zu ihrem Bruder geflohen, der ihn selbst
jedoch nicht beherbergen will und vor lauter Angst, irgendwo
dauerhaft zu bleiben, reist der zunehmend gestresste und paranoide
Silbermann immer wieder quer durch Deutschland.
Geduckte Häuser. Müllrose, 2017. |
Irgendwann richtet sich seine Wut und
sein Ärger auf diejenigen, die noch schwächer wirken als er,
nämlich jene Juden, die, im Gegensatz zu ihm selbst, auch wirklich
"jüdisch" aussehen. Beim Ansichtigwerden jener anderen
Juden werden die stillen Vorwürfe immer intensiver:
"Dadurch kommen wir alle in
Gefahr. Euch anderen habe ich es überhaupt zu verdanken. Wenn ihr
nicht wärt, könnte ich in Frieden leben. Weil ihr aber seid, falle
ich in eure Unglücksgemeinschaft! Ich unterscheide mich in nichts
von anderen Menschen, aber vielleicht seid ihr wirklich anders und
ich gehöre nicht zu euch. Ja, wenn ihr nicht wärt, würde man mich
nicht verfolgen. Dann könnte ich ein normaler Bürger bleiben. Weil
ihr existiert, werde ich ausgerottet. Dabei haben wir eigentlich gar
nichts miteinander zu tun!
Er fand, dass es würdelos sei, so
zu denken, aber er dachte dennoch so."2
Mit sehr genauer Beobachtungsgabe und
einem feinen Gespür für menschliche Psychologie hat der junge Autor
damals die Auswirkungen dessen, was wir heute gruppenbezogene
Menschenfeindlichkeit nennen, herausgearbeitet.
Sein Buch zeigt in vielen Facetten, wie
der Hass auf eine Menschengruppe nicht nur die Hassenden, sondern
auch die Gehassten selbst moralisch deformiert.
Aus der Angst und Not werden
Aggressionen.
Im Buch bricht sich dies nicht
ausführlich Bahn, aber der psychische Mechanismus ist durchaus auch
in anderen Lagen nachvollziehbar.
Doch nicht nur andere Leidtragende
geraten in Silbermanns reflektierenden Blick:
"Während man für seine Feinde
ein Geschäft ist, wird man für seine Freunde zur Gefahr. Unglück
wird schließlich zur Schuld."3
Je länger Silbermann flieht und
überlegt, Auswege sucht und scheitert, desto klarer wird ihm, dass
er auf seine Geschäftspartner nicht zählen kann, da sie als Juden
entweder selbst in Bedrängnis sind oder als Arier von ihm
profitieren könnten.
Aus der Verfolgungssituation verstrickt
sich der Verfolgte in eine Schuld, wenn er um Hilfe bittet und die
Helfenden damit selbst in eine existenzielle Dilemmasituation bringt.
Dabei sind es die menschengemachten
Umstände, die den Einzelnen in die Schuldigkeit treibt, nicht etwa
er selbst. Doch ab einem gewissen Punkt wird diese Lage immer
diffuser.
Abgegrenzt. Frauenhagen, 2016. |
Kurz vor Ende des Romans resümiert
Silbermann seine Lebenschancen und kommt zu einem vernichtenden
Urteil:
"Wie soll man denn mit alledem
fertig werden, verzweifelte er. Die Vernunft will von mir Selbstmord.
Ich aber will leben! Ich will trotz allem leben! Dazu braucht man all
seinen Verstand, doch der reicht nicht aus, er richtet sich gegen
mich selbst. Er verneint meine Existenz. Was soll ich dann mit ihm?"4
Folgerichtig verfällt Silbermann immer
tiefer seinen Ängsten.
Von der Angst zur Aggression zur Schuld
bis in Richtung Suizid dreht sich die Romanhandlung.
Diese Spirale des Verderbens, in die
die nationalsozialistischen Herrscher die von ihnen Verfolgten
getrieben haben, begann damals langsam und schleichend.
Boschwitz selbst hat die Darstellung
dieses perfiden inneren Prozesses noch 1938 in fertige Buchform
gebracht, konnte den Roman aber nicht mehr herausbringen.
Heute, 80 Jahre später, war die
Herausgabe nötiger als je. Die Verantwortung dafür, dass dieser Kreislauf nicht erneut in Bewegung kommt, liegt bei uns.
1 U.A.
Boschwitz, Der Reisende. Stuttgart 2018 (Original 1938), 201.
2 Ebd.,
201f.
3 Ebd.,
234.