Donnerstag, 8. November 2018

"Es sind zu viele Juden im Zug" – Gedanken zum 9. November

"Es sind zu viele Juden im Zug, dachte Silbermann."1

Das sagt kein Antisemit, sondern die Hauptperson in Ulrich A. Boschwitz' wiederentdeckten und in diesem Jahr erstmals herausgegebenen Roman "Der Reisende". Silbermann, wohlhabender Unternehmer im Deutschland der 1930er Jahre ist selbst Jude und, wie der Titel verrät, auf Reisen. Dies ist er jedoch nicht zum Vergnügen, sondern Silbermann befindet sich auf der Flucht. Er ist in den Strudel der nationalsozialistischen Machtdemonstrationen und Ausschreitungen jener Jahre geraten und sieht sein gesamtes bisheriges Leben zerstört.
Vom ehemaligen Geschäftspartner wurde er über den Tisch gezogen, SA-Schlägertrupps haben seine Wohnung verwüstet, seine Frau ist zu ihrem Bruder geflohen, der ihn selbst jedoch nicht beherbergen will und vor lauter Angst, irgendwo dauerhaft zu bleiben, reist der zunehmend gestresste und paranoide Silbermann immer wieder quer durch Deutschland.

Geduckte Häuser.
Müllrose, 2017.
Irgendwann richtet sich seine Wut und sein Ärger auf diejenigen, die noch schwächer wirken als er, nämlich jene Juden, die, im Gegensatz zu ihm selbst, auch wirklich "jüdisch" aussehen. Beim Ansichtigwerden jener anderen Juden werden die stillen Vorwürfe immer intensiver:

"Dadurch kommen wir alle in Gefahr. Euch anderen habe ich es überhaupt zu verdanken. Wenn ihr nicht wärt, könnte ich in Frieden leben. Weil ihr aber seid, falle ich in eure Unglücksgemeinschaft! Ich unterscheide mich in nichts von anderen Menschen, aber vielleicht seid ihr wirklich anders und ich gehöre nicht zu euch. Ja, wenn ihr nicht wärt, würde man mich nicht verfolgen. Dann könnte ich ein normaler Bürger bleiben. Weil ihr existiert, werde ich ausgerottet. Dabei haben wir eigentlich gar nichts miteinander zu tun!
Er fand, dass es würdelos sei, so zu denken, aber er dachte dennoch so."2

Mit sehr genauer Beobachtungsgabe und einem feinen Gespür für menschliche Psychologie hat der junge Autor damals die Auswirkungen dessen, was wir heute gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit nennen, herausgearbeitet.
Sein Buch zeigt in vielen Facetten, wie der Hass auf eine Menschengruppe nicht nur die Hassenden, sondern auch die Gehassten selbst moralisch deformiert.
Aus der Angst und Not werden Aggressionen.
Im Buch bricht sich dies nicht ausführlich Bahn, aber der psychische Mechanismus ist durchaus auch in anderen Lagen nachvollziehbar.

Doch nicht nur andere Leidtragende geraten in Silbermanns reflektierenden Blick:

"Während man für seine Feinde ein Geschäft ist, wird man für seine Freunde zur Gefahr. Unglück wird schließlich zur Schuld."3

Je länger Silbermann flieht und überlegt, Auswege sucht und scheitert, desto klarer wird ihm, dass er auf seine Geschäftspartner nicht zählen kann, da sie als Juden entweder selbst in Bedrängnis sind oder als Arier von ihm profitieren könnten.

Aus der Verfolgungssituation verstrickt sich der Verfolgte in eine Schuld, wenn er um Hilfe bittet und die Helfenden damit selbst in eine existenzielle Dilemmasituation bringt.
Dabei sind es die menschengemachten Umstände, die den Einzelnen in die Schuldigkeit treibt, nicht etwa er selbst. Doch ab einem gewissen Punkt wird diese Lage immer diffuser.

Abgegrenzt.
Frauenhagen, 2016.
Kurz vor Ende des Romans resümiert Silbermann seine Lebenschancen und kommt zu einem vernichtenden Urteil:

"Wie soll man denn mit alledem fertig werden, verzweifelte er. Die Vernunft will von mir Selbstmord. Ich aber will leben! Ich will trotz allem leben! Dazu braucht man all seinen Verstand, doch der reicht nicht aus, er richtet sich gegen mich selbst. Er verneint meine Existenz. Was soll ich dann mit ihm?"4

Folgerichtig verfällt Silbermann immer tiefer seinen Ängsten.

Von der Angst zur Aggression zur Schuld bis in Richtung Suizid dreht sich die Romanhandlung.
Diese Spirale des Verderbens, in die die nationalsozialistischen Herrscher die von ihnen Verfolgten getrieben haben, begann damals langsam und schleichend.
Boschwitz selbst hat die Darstellung dieses perfiden inneren Prozesses noch 1938 in fertige Buchform gebracht, konnte den Roman aber nicht mehr herausbringen. 

Heute, 80 Jahre später, war die Herausgabe nötiger als je. Die Verantwortung dafür, dass dieser Kreislauf nicht erneut in Bewegung kommt, liegt bei uns.



1   U.A. Boschwitz, Der Reisende. Stuttgart 2018 (Original 1938), 201.

2   Ebd., 201f.

3   Ebd., 234.


4   Ebd., 287.