Samstag, 17. November 2018

Aufmerksam und erschüttert. Predigt über Apokalypse, Zeitzeichen und Missbrauch

Eigentlich finde ich es ein wenig lästig, dass wir jährlich diese apokalyptischen Texte (Mk 13,24-32) hören müssen, weil sich das Kirchenjahr dem Ende neigt und vor dem Advent diese Texte vorgesehen sind.
Aber ich will versuchen, aus diesen Texten das Beste für uns zu machen und ein paar Gedanken darlegen.

1. Blick auf einen schwierigen Text
Zunächst ist festzustellen, dass die Rede ist von einer Menge sichtbarer Zeichen – vor allem die natürliche Ordnung am Himmel scheint durcheinander zu geraten. Es geht um Sonnen- und Mondfinsternis, Kometenhagel und eine allgemeine Erschütterung aller Himmelskräfte.

Der Evangelist macht also einen riesigen Horizont auf und nimmt eine globale Perspektive ein, die an den Blick von Alexander Gerst aus der ISS erinnern, einen Blick, den wir mit den technischen und medialen Mitteln unserer Tage problemlos erreichen. Und wenn wir die Welt in diesem Jahr wahrnehmen – beispielsweise die Überflutungen in Indien, den Jahrhundertsommer mit seiner extremen Trockenheit, aktuell die Waldbrände in Kalifornien oder auch die menschengemachten Katastrophen wie den Krieg im Jemen oder die Flüchtlinge im Mittelmeer – dann sehen auch wir Erschütterungen in großer Zahl.

Zeichen am Himmel?
Rixdorf, Berlin 2016.
Für den Evangelisten Markus und seine Zeitgenossen war die aus den Fugen geratene Welt ein Vorzeichen für das Kommen des Menschensohnes – besonders die Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 nach Christus muss sich den Menschen in Israel eingebrannt haben. Es wirkte auf sie, als habe Gott genug – in ihren Augen stand das Ende direkt vor der Tür.

Aber Vorsicht!
Bevor wir die schrecklichen Ereignisse unserer Zeit einfachhin in dieser Weise deuten, müssen wir uns klar machen, dass beispielsweise auch im Dreißigjährigen Krieg und am Ende des Zweiten Weltkriegs eine apokalyptische Stimmung in der Luft lag.
Das Ende der Welt war jedoch nicht gekommen, auch wenn es sich für die Zeitgenossen vielleicht so anfühlte.

Das betont der zweite Teil des Textes, der allerdings sehr verschiedene Textbausteine nebeneinander stellt. Einerseits sollen die Menschen die Zeichen des nahen Endes erkennen wie beim blühenden Feigenbaum (v28f), dazu wird betont, dass die Zeitgenossen des Autors dies noch erleben werden (v30f), andererseits betont der letzte Vers, dass niemand eine Ahnung hat, wann genau dies alles geschieht (v32).
Diese widersprüchlichen Aussagen stehen einfach nebeneinander. Sind die Verwerfungen jener Zeit nun Ausdruck des nahenden Weltendes oder kann man es nicht wissen?
Die Hörerinnen und Hörer sollen anscheinend selbst entscheiden, wie sie die Zeichen deuten.

2. Aufmerksamkeit für die Dinge dieser Welt
Und damit komme ich zu einem ersten Gedanken für uns: Es geht in diesem Text nicht um Panikmache, sondern um Aufmerksamkeit.
Das bedeutet: Gott will zu uns sprechen durch die Ereignisse der Welt. Wir sollen nicht nur in uns hinein hören, nicht nur am Sonntag im Gottesdienst bei der Predigt etwas mitnehmen – so gut beides sicher ist – nein, auch wenn wir auf die Welt schauen, sollen wir aufmerksam sein, denn wir können etwas von Gott mitbekommen.

Denn Gott will ja ständig mit uns Kontakt aufnehmen, will unsere Wahrnehmung für ihn schärfen.
Der Widerstandskämpfer und Jesuit Alfred Delp hat es 1944 während seiner Haft in der Lehrter Straße so ausgedrückt:
"Die Welt ist Gottes so voll. Aus allen Poren der Dinge quillt er gleichsam uns entgegen. Wir aber sind oft blind. Wir bleiben in den schönen und in den bösen Stunden hängen und erleben sie nicht durch bis an den Brunnenpunkt, an dem sie aus Gott herausströmen. Das gilt für alles Schöne und auch für das Elend. In allem will Gott Begegnung feiern".1

Das finde ich wichtig: Nicht nur in besonders schönen und in besonders schlechten Momenten können wir Gott wahrnehmen, sondern in allen Dingen – aber dazu dürfen wir, wie Delp es sagt, nicht hängen bleiben an den herausragenden Dingen, sondern brauchen Aufmerksamkeit auch darüber hinaus.

Allerdings muss einer Versuchung widerstanden werden: Hier handelt es sich nicht darum, objektiv festzustellen, dass an diesem oder jenem Ort eine Naturkatastrophe auftritt, und daraus den Schluss zu ziehen, dass mit den Menschen, die getroffen wurden, irgendetwas nicht stimmte (wie das leider einige Kirchenmänner immer noch tun). Das wäre eine Art Abhaken der Gegenwart Gottes etwa im Sinne der Astrologie, die meint, aus bestimmten Sternenkonstellationen konkrete Auswirkungen ableiten zu können.

"Gottes Handeln in der Geschichte ist jedoch nicht einfach ein Faktum neben anderen Fakten; es kann nicht wie diese objektiv neutral festgestellt werden. Gott würde sonst zu einer innergeschichtlichen Gegebenheit. Deshalb ist es sehr mißverständlich, von objektiven Heilstatsachen zu reden. Offenbarung ist die Geschichte nur dadurch, daß sie sich im Glauben als solche Anerkennung verschafft und als solche im Wort bezeugt wird. Die Offenbarung ist keine objektiv abrollende Heilsgeschichte, zu der der Glaube erst nachträglich und äußerlich hinzukommt",2 wie Walter Kasper vor langer Zeit in einem Vortrag betont hat.

Ankunft des Wettergottes?
Hiddensee, 2017.
Man könnte mit Alfred Delp auch sagen, dass es sich eben um Begegnung, um eine Beziehungsgeschichte handelt. Die Art der Beziehung ist in äußeren Zeichen vielleicht angedeutet, aber die (Be)Deutung der Zeichen liegt bei den Beziehungspartnern. Ein Beispiel: Am Sonntagmorgen Zeit in einer Kirche zu verbringen sagt schon irgendetwas über die Person aus, die so handelt, aber konkrete Rückschlüsse auf das religiöse Leben lassen sich dadurch nur sehr bedingt ziehen. Eindeutig ist da nichts, einzig Hinweise gibt es.

Die Aufmerksamkeit ist eben ein Tasten und Suchen, ein Offenbleiben und Lernen. Gott will zu uns sprechen durch die Dinge dieser Welt – aber wir müssen das Hören darauf erst lernen. Das meinte wohl auch das Zweite Vatikanische Konzil, als es davon sprach, dass die Kirche vor Gott die Pflicht hat, "nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten." (GS 4)

Gehen wir also mit dem heutigen Evangelium davon aus, dass Gott uns durch diese "Zeichen der Zeit" etwas mitteilen will, dann können wir derzeit viele grelle und erschütternde Momente nennen – angefangen bei den erwähnten Naturkatastrophen und Kriegen über die derzeitige politische Großwetterlage bis hin zu eher kirchlichen Themen wie der weitgehenden Irrelevanz des Religiösen für viele Zeitgenossen oder die Krisen der Kirche.

Was Gott uns Christen mit diesen Dingen genau sagen will, müssen wir sorgsam unterscheiden, selten jedenfalls ist es so eindeutig wie beim Zweig des Feigenbaums, von dem Jesus spricht. Oft genug müssen wir lernen, Uneindeutigkeiten auszuhalten.

Eine Aussage, die ich bei Gesprächen im Gefängniskrankenhaus manchmal höre, wenn ich frage, wie es meinem Gegenüber jetzt in Haft geht, ist: "Es ist gut, dass ich jetzt hier bin und von den ganzen Drogen erst einmal wegkomme. Draußen hätte ich nicht die Kraft, clean zu bleiben."
Beim Weiterreden stellen wir dann bisweilen fest, dass der Aufenthalt im Knast, entgegen dem ersten Anschein, auch eine Gnade sein kann und dass Gott durchaus eine positive Botschaft für mein Gegenüber damit verbinden könnte.
Da hat eine Person dann ihren ganz individuellen Schluss aus diesem Ereignis der Inhaftierung gezogen, einen Schluss, den ihr von außen niemand aufzwingen kann.

Was aber all den Zeichen, den global wie den persönlich erlebten, gemeinsam ist, dürfte auf jeden Fall sein, dass Gott uns sicher etwas sagen will.
Genauer: Wir sollen mit Gott rechnen – schon jetzt.
Dieser Text über das Ende will die Aufmerksamkeit der Hörerinnen und Hörer nämlich wieder auf die Gegenwart richten: Was will Gott mir persönlich mit einem bestimmten Ereignis sagen?

3. Erschütterung
Ein besonders wichtiges "Zeichen der Zeit" für die Kirche möchte ich eigens erwähnen.
Es geht um die Aufdeckung von sexuellem Missbrauch und seiner jahrzehntelangen Vertuschung durch kirchliche Amtsträger. Ich glaube, wenn Gott der Kirche und allen Christen durch irgendwelche Zeichen etwas sagen will, dann durch diese Enthüllungen.

Der Vatikan hat dazu aufgerufen, einen "Tag des Gebets und der Buße für die Opfer sexuellen Missbrauchs" einzurichten, den die deutschen Bischöfe jeweils um den 18. November, in diesem Jahr genau heute, begehen wollen.
Es soll darum gehen, die Augen und Herzen für die Opfer von Missbrauch und Gewalt zu öffnen.

Guter Hirte?
Steglitz, Berlin, 2018.
Ich weiß nicht, wie Sie dazu stehen, ob Sie schon genug von diesem Thema und der Berichterstattung in den Medien haben oder ob Sie der Meinung sind, dass noch mehr und anderes geschehen muss.

Ich möchte hier zwei Anstöße geben.

Einmal: Für Menschen, die sexuelle Gewalt erlebt haben, denen teilweise jahrelang nicht zugehört und nicht geglaubt wurde, für die gilt in vielen Fällen wohl genau das, was der Text sagt:
Alles ist durcheinander gekommen, alles ist erschüttert, alles wankt. Das Weltgefüge stimmt nicht mehr, die Sonne verliert ihren Glanz, die Orientierung geht verloren.
Aus dem globalen Bild der aus der Ordnung geratenen Himmelskörper wird dann ein individuelles Bild des Schreckens, wenn nicht mehr klar ist, wem man vertrauen kann, wer wirklich helfen will und wer vertuscht, wo ein offenes Ohr zu finden ist, ob Kirche noch vertrauenswürdige Glieder hat.

In solchen Situationen, und das ist mein zweiter Punkt, wird ein Richter, wie er hier als "mit großer Macht und Herrlichkeit auf den Wolken" kommend vorgestellt wird, zur zentralen Hoffnungsinstanz.
Denn wenn die Institutionen dieser Welt nicht funktionieren, dann ist für die Überlebenden von sexuellem Missbrauch ein solcher Richter von außerhalb die einzig verbliebene Aussicht auf Gerechtigkeit und Trost.
So traurig es ist und so sehr man sich über das Versagen der Kirche ärgern kann, es zeigt sich, dass es von außen (hier also von außerhalb der Kirche) kommende Kräfte braucht, die wenigstens partiell für Gerechtigkeit sorgen. Die Kirche (und das bedeutet: viele ihrer Vertreter) hat augenscheinlich versagt, hat es selbst nicht vermocht, Gerechtigkeit zu schaffen.

Was aber ist es, was Gott uns damit vielleicht sagen will?
Drei kurze Thesen:
Der Schutz und die Würde der einzelnen Betroffenen muss kategorisch über den Schutz der Institution gestellt werden. Eine externe weltliche Gerichtsbarkeit gehört in jedem Fall mit an den Tisch. Nur so kann Kirche irgendwann wieder glaubwürdig wirken.

Und: Das epidemische Versagen muss Konsequenzen haben. Auch die Kirche muss die Erschütterung ihres gesamten Gefüges spüren – dazu gehört in erster Linie die Überwindung der übertriebenen Fokussierung auf geweihte Amtsträger, also die Wurzel des Klerikalismus.

Schließlich, mit Blick auf den nahenden Advent: Jesus ist an Weihnachten nicht auf Wolken thronend gekommen. Er wurde geboren als ein Kind. Er stand auf der Seite der Kinder. Auf der Seite der Schwächsten. Nicht auf Seiten der Amtsträger. Und auch das ist eine Frage des Gerichts: Wo stehst du, wo stehen wir, die wir hier versammelt sind? Bei den Mächtigen oder bei den Schwachen und Geschundenen? (Gleichzeitig steht Jesus auch hier!)


Drei Punkte also zum Mitnehmen:
  1. "Die Welt ist Gottes voll." Bin ich aufmerksam dafür?
  2. Was will Gott mir sagen durch das, was in meinem Leben geschieht? Wo will er mich haben?
  3. Wo stehen wir als Christen? Lassen wir uns erschüttern von Leid und Unrecht? Und, noch wichtiger, tun wir etwas dagegen?

    Standfest oder im Wanken?
    Ernst-Thälmann-Statue, Friedrichshain, Berlin, 2016.
1   A. Delp, Brief an Luise Oesterreicher vom 17.11.1944. In: Kassiber. Aus der Haftanstalt Berlin-Tegel. Frankfurt a.M. 1987, 14.
2   W. Kasper, Die Welt als Ort des Evangeliums. In: Ders., Glaube und Geschichte. Mainz 1970, 209-223, hier: 212.