Montag, 19. November 2018

Verwaist. Radio-Worte auf den Weg

In dieser Woche bin ich von Montag bis Samstag jeweils dreimal mit kurzen spirituellen Beiträgen aus dem Gefängnisalltag im Radio zu hören: 5.50 Uhr auf Radio Berlin 88.8; 6:45 Uhr auf Kulturradio; 9:12 Uhr auf Antenne Brandenburg. 
Hier die (ungefähr so vorgetragene) Textfassung von heute:

Wer eine Haft antreten muss, wird zu einem gewissen Grad zu einem Waisen, einem Einsamen. Und er hinterlässt Waisen in seinem persönlichen Umfeld außerhalb des Gefängnisses.[1]

Kinder verlieren ihre Väter, Schwestern ihre Brüder und Eltern ihre Söhne. Sie verschwinden zeitweise aus dem Leben ihrer Angehörigen. Denn zum Aufenthalt in einer Haftanstalt gehört naturgemäß die starke Einschränkung des Kontakts mit Familie, Bekannten und Freunden.

Mauer und Himmel.
Humboldtforum, Berlin-Mitte, 2018.
Die Inhaftierten müssen ja nicht nur ihre eigenen Geburtstage hinter Gittern feiern, sondern auch die Geburtstage ihrer Kinder und Frauen, ebenso Weihnachten und andere hohe Feste.

So gewöhnen sich die, die draußen leben, an die dauernde Abwesenheit und gestalten ihren Alltag entsprechend. Die Trauer über den Verlust wird unterschiedlich bewältigt: Manche Familien kämpfen ausdauernd und versuchen, durch Besuche und Telefonate das gemeinsame Leben lange aufrecht zu erhalten. Andere zerbrechen daran und vergessen den hinter Gittern Begrabenen.

Das Gefängnis wirkt auf mich deshalb manchmal wie ein großer Friedhof, auf dem die Verurteilten erst einmal verschwinden.
Manchmal wird der Tod aber auch Realität – wie vor drei Wochen, als ein Mann in der JVA Plötzensee, in der ich tätig bin, Suizid beging.

Wenn ich von Zeit zu Zeit einzelnen Gefangenen aus seelsorglichen Gründen einen zusätzlichen Besuch der Familie im Gefängnis ermöglichen kann, dann erlebe ich oft, wie irritiert kleinere Kinder reagieren, wenn sie den Vater nach langer Zeit wiedersehen. Für sie ist der fremde Mann, den sie nur unter diesen eigenartigen Umständen sehen, kein Teil ihres täglichen Lebens.
Wenn jemand drei oder vier oder noch mehr Jahre in Haft ist, wird die spätere Rückkehr in die Familie oft anstrengend.

Und doch muss diese Anstrengung bewältigt werden.Denn die Haftstrafe ist nur eine zeitlich begrenzte Abwesenheit.
Der Tod hat hier – jedenfalls in den meisten Fällen – nicht das letzte Wort. Im Gegensatz zu unseren Verstorbenen kehren die Inhaftierten irgendwann zurück ins Leben und müssen sich dann neu ihren Platz suchen.
Es geht also darum, die Gefangenen auf ein Leben nach der Haft vorzubereiten. Mit Ausbildungsmöglichkeiten, psychologischer Beratung, seelsorgerlichen Hilfen.

Jesus selbst hat sich mit all jenen gemeinsam zu Tisch gesetzt, die sonst von allen zurückgewiesen wurden: Zöllner, Prostituierte, Sünder.
Das sehe ich auch als gesellschaftliche Aufgabe an: Entlassenen Häftlingen eine Chance zu geben und sie wieder ins Leben, in die Gesellschaft hereinzuholen.


[1] Inspiriert vom Gespräch des Gefängnisseelsorgers Marco Pozza mit Papst Franziskus, in dem ein Häftling zitiert wird: „Von all diesen Dingen quält mich am meisten, dass ich meinen Sohn zur Waise gemacht habe. Ich habe ihm das Recht vorenthalten, mit einem Vater aufzuwachsen. Schon als er geboren wurde, war ich im Gefängnis. Ich habe ihn nur im Besuchszimmer heranwachsen sehen.“ In: Papst Franziskus, Vater unser. Das Gebet Jesu neu gelesen. München 2018, 128.