In dieser Woche bin ich von Montag bis Samstag jeweils dreimal mit kurzen
spirituellen Beiträgen aus dem Gefängnisalltag im Radio zu hören:
5.50 Uhr auf Radio Berlin 88.8; 6:45 Uhr auf Kulturradio; 9:12 Uhr auf
Antenne Brandenburg.
Hier die (ungefähr so vorgetragene) Textfassung von heute:
Wer eine Haft antreten muss, wird zu
einem gewissen Grad zu einem Waisen, einem Einsamen. Und er
hinterlässt Waisen in seinem persönlichen Umfeld außerhalb des
Gefängnisses.[1]
Kinder verlieren ihre Väter,
Schwestern ihre Brüder und Eltern ihre Söhne. Sie verschwinden
zeitweise aus dem Leben ihrer Angehörigen. Denn zum Aufenthalt in
einer Haftanstalt gehört naturgemäß die starke Einschränkung des
Kontakts mit Familie, Bekannten und Freunden.
Mauer und Himmel. Humboldtforum, Berlin-Mitte, 2018. |
Die Inhaftierten müssen ja nicht nur
ihre eigenen Geburtstage hinter Gittern feiern, sondern auch die
Geburtstage ihrer Kinder und Frauen, ebenso Weihnachten und andere
hohe Feste.
So gewöhnen sich die, die draußen
leben, an die dauernde Abwesenheit und gestalten ihren Alltag
entsprechend. Die Trauer über den Verlust wird unterschiedlich
bewältigt: Manche Familien kämpfen ausdauernd und versuchen, durch
Besuche und Telefonate das gemeinsame Leben lange aufrecht zu
erhalten. Andere zerbrechen daran und vergessen den hinter Gittern
Begrabenen.
Das Gefängnis wirkt auf mich deshalb manchmal wie ein großer Friedhof, auf dem die Verurteilten erst einmal verschwinden.
Manchmal wird der Tod aber auch
Realität – wie vor drei Wochen, als ein Mann in der JVA
Plötzensee, in der ich tätig bin, Suizid beging.
Wenn ich von Zeit zu Zeit einzelnen
Gefangenen aus seelsorglichen Gründen einen zusätzlichen Besuch der
Familie im Gefängnis ermöglichen kann, dann erlebe ich oft, wie
irritiert kleinere Kinder reagieren, wenn sie den Vater nach langer
Zeit wiedersehen. Für sie ist der fremde Mann, den sie nur unter
diesen eigenartigen Umständen sehen, kein Teil ihres täglichen
Lebens.
Wenn jemand drei oder vier oder noch
mehr Jahre in Haft ist, wird die spätere Rückkehr in die Familie
oft anstrengend.
Und doch muss diese Anstrengung
bewältigt werden.Denn die Haftstrafe ist nur eine
zeitlich begrenzte Abwesenheit.
Der Tod hat hier – jedenfalls in den
meisten Fällen – nicht das letzte Wort. Im Gegensatz zu unseren
Verstorbenen kehren die Inhaftierten irgendwann zurück ins Leben und
müssen sich dann neu ihren Platz suchen.
Es geht also darum, die Gefangenen auf
ein Leben nach der Haft vorzubereiten. Mit Ausbildungsmöglichkeiten,
psychologischer Beratung, seelsorgerlichen Hilfen.
Jesus selbst hat sich mit all jenen
gemeinsam zu Tisch gesetzt, die sonst von allen zurückgewiesen
wurden: Zöllner, Prostituierte, Sünder.
Das sehe ich auch als gesellschaftliche
Aufgabe an: Entlassenen Häftlingen eine Chance zu geben und sie wieder ins Leben, in
die Gesellschaft hereinzuholen.
[1] Inspiriert vom Gespräch des Gefängnisseelsorgers Marco Pozza mit Papst Franziskus, in dem ein Häftling zitiert wird: „Von all diesen Dingen quält mich am meisten, dass ich meinen Sohn zur Waise gemacht habe. Ich habe ihm das Recht vorenthalten, mit einem Vater aufzuwachsen. Schon als er geboren wurde, war ich im Gefängnis. Ich habe ihn nur im Besuchszimmer heranwachsen sehen.“ In: Papst Franziskus, Vater unser. Das Gebet Jesu neu gelesen. München 2018, 128.