Mittwoch, 21. November 2018

„Sie verurteilen mich nicht!“ Radio-Worte auf den Weg

In dieser Woche bin ich von Montag bis Samstag jeweils dreimal mit kurzen spirituellen Beiträgen aus dem Gefängnisalltag im Radio zu hören: 5.50 Uhr auf Radio Berlin 88.8; 6:45 Uhr auf Kulturradio; 9:12 Uhr auf Antenne Brandenburg. 
Hier die (ungefähr so vorgetragene) Textfassung von heute:

Als Gefängnisseelsorger bin ich während der Aufschlusszeiten oft auf den langen Gängen der Hafthäuser unterwegs. Da ergeben sich manchmal gute Gespräche mit Leuten, die nicht von sich aus in den Gottesdienst kommen. Die lockere Atmosphäre auf dem Gang gibt uns Gelegenheit, ganz frei zu plaudern und uns über dies und das auszutauschen.

Besonders eindrücklich ist mir eine Begegnung mit einem muslimischen Inhaftierten im Gedächtnis geblieben. Er interessierte sich sehr dafür, was ich als Seelsorger mache. Ich erklärte, dass ich in erster Linie aufmerksam zuhöre und versuche, das Problem meines Gegenübers gut zu verstehen. Dann könne ich gemeinsam mit ihm herausfinden, was für ihn hilfreich wäre. Als er das hörte, fragte er, ob auch er einmal zum Gespräch kommen kann.

Mauer und Himmel.
Kindl-Brauerei, Neukölln, Berlin, 2017.
Auf meinen Hinweis, dass er auch zum Imam gehen könne, der seit einiger Zeit auch in unserem Gefängnis Gesprächsangebote macht, reagierte er skeptisch. Er schien misstrauisch gegenüber dem Beauftragten seiner Religion, wie es ja bisweilen auch Christen gegenüber ihren Pfarrern sind.

Und im Brustton der Überzeugung fügte er hinzu: "Sie verurteilen mich nicht!"

Das hat mich zuerst gewundert. Der Mann schien ja schon eine recht genaue Vorstellung zu haben, was er von mir erwarten könne und was nicht. Aber mehr als dass es mich wunderte, hat es mich gefreut. Denn die Aussage dieses Mannes bringt ja genau das auf den Punkt, was allen Christen und nicht nur Gefängnisseelsorgern wichtig sein sollte: Sein Gegenüber nicht zu verurteilen.

Es geht ja so schnell, dass wir uns ein Urteil über jemanden bilden. Menschen, die einmal im Gefängnis waren, wissen das besonders gut. Denn der Rest der Gesellschaft hat sich oft genug schon ein Urteil über sie gebildet. Und zwar kein gutes.

Der heutige Buß- und Bettag ist eine gute Gelegenheit, von den eigenen Urteilen einmal Abstand zu nehmen. Wir könnten stattdessen versuchen, all jene, die wir sonst quasi im Vorübergehen innerlich aburteilen, mit einem anderen Blick wahrzunehmen. Oder im Gebet vor Gott zu bringen.

„Sie verurteilen mich nicht“ sagte der Gefangene.
Morgen gehe ich wieder zu meiner Arbeit ins Gefängnis und versuche, diesem Satz des muslimischen Inhaftierten gerecht zu werden.