Donnerstag, 22. November 2018

Auf Seiten der Täter. Radio-Worte auf den Weg

In dieser Woche bin ich von Montag bis Samstag jeweils dreimal mit kurzen spirituellen Beiträgen aus dem Gefängnisalltag im Radio zu hören: 5.50 Uhr auf Radio Berlin 88.8; 6:45 Uhr auf Kulturradio; 9:12 Uhr auf Antenne Brandenburg. 
Hier die (ungefähr so vorgetragene) Textfassung von heute:

Manchmal komme ich mit meiner Arbeit als Gefängnisseelsorger an die Sympathie-Grenze. Denn zu meiner Aufgabe gehört es, Mitgefühl für Menschen aufzubringen, die bisweilen Furchtbares getan haben. Das gelingt mir mal mehr, mal weniger. 

Vor einiger Zeit beispielsweise traf ich einen Mann, der mir nach einer Reihe von Gesprächen eröffnet hat, dass er wegen des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen in Haft ist. Da er auf mich zuvor einen sehr freundlichen und sympathischen Eindruck machte, war ich einigermaßen geschockt.
Mauer auf einer Seite.
Sammlung Scharf-Gerstenberg,
Charlottenburg, Berlin, 2015.
Inzwischen haben wir uns länger unterhalten und ich weiß, dass er extrem unter seinen Taten und seiner Neigung leidet. Aber er kann sich, wie viele Süchtige, nicht wirksam davon befreien.
In dieser Situation versuche ich ihn im Gespräch zu unterstützen.
Ich kenne nur seine Perspektive auf die Taten; seine Akten oder das Gerichtsurteil kenne ich nicht. Die Geschichte seiner Opfer ist mir nicht bekannt. Dadurch sehe ich die Dinge in diesem Fall und in vielen anderen Fällen mehr aus der Sicht des Täters als aus irgendeiner anderen. 

Und das ist ein moralisch abschüssiges Terrain. Denn ich versuche, Mitgefühl für die Inhaftierten in ihrer schwierigen Situation aufzubringen. Gleichzeitig finde ich ihre Taten, besonders im Falle dieses Missbrauchstäters, abscheulich. Das ist ein Zwiespalt, eine Gratwanderung.

Je länger ich diesen seelsorgerischen Dienst ausübe, desto stärker wird in mir die Überzeugung, dass jeder Mensch jemanden braucht, der auf seiner Seite steht. Selbst der schlimmste Verbrecher. Und damit meine ich nicht nur einen bezahlten Anwalt.
Ich meine damit jemanden, der mit ihm geht, mit ihm fühlt, zu dem er gehen kann trotz all seiner Verbrechen und Sünden. Jemanden, der auch kritisiert, der manchmal den Kopf schüttelt, der aber nicht fortgeht.

Eltern sollten so sein. Leider höre ich aber auch immer wieder davon, dass Eltern sich abgewandt haben und keinen Kontakt mehr mit ihrem inhaftierten Sohn oder der Tochter wollen. Zu oft sind sie enttäuscht und vor den Kopf gestoßen worden. Wie verständlich ist da manche Abwendung!

Doch wer bleibt auf Seiten der Verbrecher?

Genau dort zu stehen, das sehe das als eine meiner wichtigsten Aufgaben als Seelsorger im Gefängnis.