Freitag, 16. November 2018

Unechte Sicherheiten. Gianna Molinaris "Hier ist noch alles möglich"

Wie gut passt dieses Buch doch in unsere Zeit!
Allerorten versucht man, Dinge festzuzurren und greifbar zu machen, nationale und begriffliche Grenzen zu schließen, Fakten justiziabel zu formulieren und auf diesen Wegen die allerorten aufkommenden Ängste zu bändigen. Dabei benötigen wir doch gerade in unserer hochkomplexen Welt die Fähigkeit, nicht alles sofort einzutüten und wegzustecken, sondern Fragen auch mal offenzuhalten und die Unklarheit des Lebens auszuhalten.

Ich glaube, genau darum geht es in Gianna Molinaris Debütroman mit dem sprechenden Titel "Hier ist noch alles möglich".1
Die junge Frau, welche die Geschichte erzählt, beginnt gerade einen neuen Job als Nachtwächterin in einer Kartonfabrik. Obwohl die Fabrik bald schließen wird, soll noch ein angeblich auf dem Gelände aufgetauchter Wolf gefangen werden. Für den gibt es allerdings keine Beweise außer einer angeblichen Sichtung und sonst nur sehr spärliche Hinweise. Der Roman umkreist die Arbeit vor den Monitoren und an den Löchern des Zaunes, die Umgebung des Fabrikgeländes mit einem nahegelegenen Flughafen und erlaubt sich von Zeit zu Zeit kurze Abstecher auf ferne Inseln.

Angespülter Fund.
Hiddensee, 2018.
Durch diese recht übersichtliche Anlage des Romans purzeln immer wieder Sätze wie "Ich kann meinen Augen nicht mehr trauen" oder "Es ist nicht zu bestimmen", nämlich woher die Löcher im Zaun kommen oder aber die Herkunft eines Toten "... konnte nicht definitiv festgestellt werden." Bei der Zollkontrolle heißt es über ein auffälliges Fundstück im Gepäck lapidar: "Das kann alles sein."2
An anderen Stellen sind nur Fragen an Fragen gereiht, die sich damit beschäftigen, wie mit einem gefangenen oder toten Wolf umzugehen sei oder wie man sich vor ihm schützen könne.
Unklare Verhältnisse durchziehen also das Buch ebenso wie das gesunde Misstrauen gegenüber dem scheinbar Offensichtlichen. 

Die Ich-Erzählerin gibt zu Protokoll:
"Ich zweifle daran, dass die Sicherheit, in der ich lebe, der Realität entspricht. Ich sehne mich nach Unsicherheit, nach mehr Echtheit vielleicht, nach Wirklichkeit. Ich möchte unterscheiden können, was wichtig ist und was nicht."3

Um dieses Ziel der Unterscheidung zu erreichen, führt sie ein eigenes "Universal-General-Lexikon", das notwendigerweise subjektiv und bruchstückhaft bleibt. Schon eher helfen ihr beständige Aufzählungen, um ihre Umwelt klarer zu sehen, oder jedenfalls aufgeräumter.

Dennoch bleibt die Schwebe der Grundtenor des Buches, wenn eine Schwebe denn so etwas sein kann. Die Geschichte vom Fund eines vom Himmel gefallenen Flüchtlings, der den Flug im Fahrgestell des Flugzeugs nicht überlebte, beschäftigt die Erzählerin: Jemand, über den nichts bekannt ist außer seiner Hautfarbe und seine Kleidung. Er passt perfekt ins Bild der unechten Sicherheiten, die man sich auch aus den Indizien seines toten Leibes zusammenschustert. Wahr bleibt hier, wie an vielen anderen Stellen des Romans, dass vieles eben gar nicht gesagt werden kann. Es bleiben zu viele "Stellen von Nichts",4 über die hinwegzukommen unmöglich ist.

Allerdings scheint die Bekanntschaft mit der Ingenieurin Erika einen Ausweg zu anzubieten, den auch das selbstgebastelte Lexikon nicht ermöglicht. Denn Erika hat gesagt, dass es in ihrem Beruf für alles eine Anleitung gibt.

"Ich wünsche mir, wie Erika zu sein, eine solche Anleitung zu besitzen und einen Werkzeugkasten mit Schraubenziehern und Zangen und zu wissen, welche Schraube an welchen Ort gehört und aus welchem Grund, einen solchen Overall zu tragen, mit leuchtenden Neonstreifen an den Oberarmen, mich so sicher zu bewegen wie sie, aufrecht mit großen Schritten, mich durch nichts aus der Fassung bringen zu lassen".5

Für Interpretationen offene Anker.
Hiddensee, 2018.
Werkzeug und Neonstreifen – Symbole der Handhabbarkeit und Deutlichkeit!

Genau das macht diesen kurzen Roman in meinen Augen so wertvoll, dass er nicht nur die Welt in der Schwebe zeigt, nicht nur den Wunsch nach Unsicherheit und die Suche nach Echtheit, sondern auch die gleichzeitige Sehnsucht nach Beständigkeit und Durchblick.
Beides ist da, in gewisser Weise zeigt sich auch hier die Schwebe wieder, die das Büchlein ausmacht.

Letztlich hält die Autorin auch in der Frage des Wolfes keine Auflösung bereit. Der unsichtbare Wolf geistert unfassbar durch die Geschichte und auch eine "Taschenlampe macht die Nacht nicht heller."6

Damit müssen wir wohl leben.
Taschenlampen gibt es zwar, aber was sind sie schon gegen die Dunkelheit einer echten Nacht...?
Nur in dieser unbestimmten Dunkelheit "ist noch alles möglich"...


1   Berlin 2018.

2   Ebd., 75.42.64.115.

3   Ebd., 29.

4   Ebd., 47.

5   Ebd., 130.


6   Ebd., 76.