Wie gut passt dieses Buch
doch in unsere Zeit!
Allerorten versucht man,
Dinge festzuzurren und greifbar zu machen, nationale und begriffliche
Grenzen zu schließen, Fakten justiziabel zu formulieren und auf
diesen Wegen die allerorten aufkommenden Ängste zu bändigen. Dabei
benötigen wir doch gerade in unserer hochkomplexen Welt die
Fähigkeit, nicht alles sofort einzutüten und wegzustecken, sondern
Fragen auch mal offenzuhalten und die Unklarheit des Lebens
auszuhalten.
Ich glaube, genau darum
geht es in Gianna Molinaris Debütroman mit dem sprechenden Titel
"Hier ist noch alles möglich".1
Die junge Frau, welche die
Geschichte erzählt, beginnt gerade einen neuen Job als
Nachtwächterin in einer Kartonfabrik. Obwohl die Fabrik bald
schließen wird, soll noch ein angeblich auf dem Gelände
aufgetauchter Wolf gefangen werden. Für den gibt es allerdings keine
Beweise außer einer angeblichen Sichtung und sonst nur sehr
spärliche Hinweise. Der Roman umkreist die Arbeit vor den Monitoren
und an den Löchern des Zaunes, die Umgebung des Fabrikgeländes mit
einem nahegelegenen Flughafen und erlaubt sich von Zeit zu Zeit kurze
Abstecher auf ferne Inseln.
Angespülter Fund. Hiddensee, 2018. |
Durch diese recht
übersichtliche Anlage des Romans purzeln immer wieder Sätze wie
"Ich kann meinen Augen nicht mehr trauen"
oder "Es ist nicht zu bestimmen",
nämlich woher die Löcher im Zaun kommen oder aber die Herkunft
eines Toten "... konnte nicht definitiv festgestellt werden."
Bei der Zollkontrolle heißt es über ein auffälliges Fundstück im
Gepäck lapidar: "Das kann alles sein."2
An anderen Stellen sind
nur Fragen an Fragen gereiht, die sich damit beschäftigen, wie mit
einem gefangenen oder toten Wolf umzugehen sei oder wie man sich vor
ihm schützen könne.
Unklare Verhältnisse
durchziehen also das Buch ebenso wie das gesunde Misstrauen gegenüber
dem scheinbar Offensichtlichen.
Die Ich-Erzählerin gibt
zu Protokoll:
"Ich
zweifle daran, dass die Sicherheit, in der ich lebe, der Realität
entspricht. Ich sehne mich nach Unsicherheit, nach mehr Echtheit
vielleicht, nach Wirklichkeit. Ich möchte unterscheiden können, was
wichtig ist und was nicht."3
Um dieses Ziel der
Unterscheidung zu erreichen, führt sie ein eigenes
"Universal-General-Lexikon", das notwendigerweise
subjektiv und bruchstückhaft bleibt. Schon eher helfen ihr
beständige Aufzählungen, um ihre Umwelt klarer zu sehen, oder
jedenfalls aufgeräumter.
Dennoch bleibt die Schwebe
der Grundtenor des Buches, wenn eine Schwebe denn so etwas sein kann.
Die Geschichte vom Fund eines vom Himmel gefallenen Flüchtlings, der
den Flug im Fahrgestell des Flugzeugs nicht überlebte, beschäftigt
die Erzählerin: Jemand, über den nichts bekannt ist außer seiner
Hautfarbe und seine Kleidung. Er passt perfekt ins Bild der unechten
Sicherheiten, die man sich auch aus den Indizien seines toten Leibes
zusammenschustert. Wahr bleibt hier, wie an vielen anderen Stellen
des Romans, dass vieles eben gar nicht gesagt werden kann. Es bleiben
zu viele "Stellen von Nichts",4
über die hinwegzukommen unmöglich ist.
Allerdings scheint die
Bekanntschaft mit der Ingenieurin Erika einen Ausweg zu anzubieten,
den auch das selbstgebastelte Lexikon nicht ermöglicht. Denn Erika
hat gesagt, dass es in ihrem Beruf für alles eine Anleitung gibt.
"Ich wünsche mir,
wie Erika zu sein, eine solche Anleitung zu besitzen und einen
Werkzeugkasten mit Schraubenziehern und Zangen und zu wissen, welche
Schraube an welchen Ort gehört und aus welchem Grund, einen solchen
Overall zu tragen, mit leuchtenden Neonstreifen an den Oberarmen,
mich so sicher zu bewegen wie sie, aufrecht mit großen Schritten,
mich durch nichts aus der Fassung bringen zu lassen".5
Für Interpretationen offene Anker. Hiddensee, 2018. |
Werkzeug und Neonstreifen
– Symbole der Handhabbarkeit und Deutlichkeit!
Genau das macht diesen
kurzen Roman in meinen Augen so wertvoll, dass er nicht nur die Welt
in der Schwebe zeigt, nicht nur den Wunsch nach Unsicherheit und die
Suche nach Echtheit, sondern auch die gleichzeitige Sehnsucht nach
Beständigkeit und Durchblick.
Beides ist da, in gewisser
Weise zeigt sich auch hier die Schwebe wieder, die das Büchlein
ausmacht.
Letztlich hält die Autorin auch in der Frage des Wolfes keine Auflösung bereit. Der unsichtbare Wolf geistert unfassbar durch die Geschichte und auch eine "Taschenlampe macht die Nacht nicht heller."6
Damit müssen wir wohl
leben.
Taschenlampen gibt es
zwar, aber was sind sie schon gegen die Dunkelheit einer echten
Nacht...?
Nur in dieser unbestimmten Dunkelheit "ist noch alles möglich"...
1 Berlin
2018.
2 Ebd.,
75.42.64.115.
3 Ebd.,
29.
4 Ebd.,
47.
5 Ebd.,
130.