Es gibt genügend Gründe, warum man
der Meinung sein kann, es sei besser, kein Christ zu sein.
Ich fasse heute einmal zwei Beweggründe
ins Auge, die weiter voneinander entfernt nicht sein können.
Es mögen nicht die gängigsten Gründe
sein, aber sie sind auch nicht gänzlich ohne Relevanz.
1.
Derzeit schauen sehr viele
US-Amerikaner und viele Menschen weltweit auf die ungeheuerlichen
Taten von Priestern und Ordensleuten in den USA, die Kinder und
Jugendliche zum Teil schwer sexuell missbraucht haben – und sie
hören von der jahrelangen Vertuschung durch die Verantwortlichen.1
Dieses Thema raubt mir beim Schreiben
alle Kraft.
Ich will keine Entsetzlichkeiten
ausbreiten und mir wird schlecht, wenn ich lese, was genau passiert
ist. Aber ich glaube, dass es wichtig ist, auszusprechen, in welcher
Weise Kirchenleute hier auf die verschiedensten Weisen schuldig
geworden sind.
Das Schwert des Erzengels Michael schwebt drohend über dem Zelebranten der Liturgie. Kirche St. Theresia vom Kinde Jesu, Buckow, Berlin, 2018. |
Der Bericht der Grand Jury, der am 14.
August in den USA vorgestellt wurde und Dokumente der letzten 70
Jahre in sechs Bistümern des Bundesstaates Pennsylvania zur
Grundlage hat, ist ein Schock. Obwohl schon Anfang der 2000er Jahre
in den USA viel sexueller Missbrauch innerhalb der katholischen
Kirche aufgedeckt wurde, kamen nun nach Zeugenanhörungen und der
Durchsicht vieler interner Dokumente noch einmal hunderte neuer Fälle
ans Tageslicht.
Auch wenn sich laut Bericht in den
letzten 15 Jahren sehr viel verändert hat und der Großteil der
Fälle aus den 1970ern-1990er Jahren stammt, bleibt das angerichtete
Unheil für die Einzelnen doch enorm.
Sehr ausführlich werden Taten und
Namen in dem 884 Seiten umfassenden Bericht aufgezählt und dabei
mehr als 300 mutmaßliche Täter benannt. Nicht alle Aussagen sind
gerichtsfest und manche der Taten, die schon Jahrzehnte zurückliegen,
werden nicht mehr im Deteil aufgeklärt werden können. Einige der
Täter sind schon verstorben, die meisten Taten verjährt, aber für
viele der Opfer ist es wichtig, dass die Verbrechen und die
Verbrecher noch einmal beim Namen genannt werden. Auch jene Bischöfe
und leitenden Kirchenmänner, die lange Jahre vertuschten, die Täter
erst zur Therapie schickten und dann an einen weit entfernten Ort
versetzten und sie nach ihrem Tod noch mit warmen Worten lobten, sind
evident schuldig geworden.
Die Vertuschungsstrategien werden
beschrieben als immergleiche (oder wenigstens sehr ähnliche)
Abläufe: Die Taten abwiegeln und euphemistisch umschreiben (also
etwa "Grenzüberschreitung" statt "Vergewaltigung");
Untersuchungen durch Interne durchführen lassen; psychiatrische
Untersuchungen in kirchlichen Kliniken durchführen lassen; den
Tätern den Großteil der Deutungsvollmacht über das Geschehen
belassen; den Gemeinden bei Versetzung der Priester nur mitteilen,
dass er aus gesundheitlichen Gründen gehen müsse; die Kleriker
nicht suspendieren, sondern nur in andere Gemeinden versetzen.
Auf diese Weise wird ein entsetzliches
System aus Machtmissbrauch, sexueller Gewalt, Männerbünden,
religiöser Bemäntelung und Rechtsvereitelung sichtbar, das mir als
Mitarbeiter dieser Kirche den Atem stocken lässt, auch weil dieses
System einen unverkennbar "katholischen Geschmack"
(K. Mertes) hat.
Denn religiöse Autoritäten (meist
Priester) nutzen dabei ihre Stellung aus und machen sich Menschen
auch durch religiösen Druck gefügig. Und höhere Autoritäten
leiten mögliche Anschuldigungen so ab, dass den Tätern nichts
passiert und die Opfer nicht frei sprechen können.
So schreibt auch Papst Franziskus als Reaktion auf diesen Bericht in seinem Brief an die Gläubigen in der letzten Woche von
"einer anomalen Verständnisweise von Autorität in der
Kirche [...]. Der Klerikalismus, sei er nun von den Priestern selbst
oder von den Laien gefördert, erzeugt eine Spaltung im Leib der
Kirche, die dazu anstiftet und beiträgt, viele der Übel, die wir
heute beklagen, weiterlaufen zu lassen. Zum Missbrauch Nein zu sagen,
heißt zu jeder Form von Klerikalismus mit Nachdruck Nein zu sagen."
Dazu kommt, dass die katholische
Sexualmoral oft dazu geführt hat, Themen, in denen es um Sexualität
geht, insgesamt nicht klar anzusprechen. Die verbreitete
Sprachlosigkeit angesichts sexueller Themen in der katholischen
Kirche ist auch eine der Antworten auf die Frage, die Klaus Mertes
sich 2010 gestellt hat: "Was hat uns daran gehindert, solche
Beschwerden zu hören und nachzufragen"? Wer solche Themen
grundsätzlich nicht anspricht, wird auch nicht glauben können, was
für entsetzliche Übergriffe geschehen können.
Das jedenfalls scheint die Erfahrung
vieler Opfer sexueller Gewalt auch in Deutschland zu sein. Den Opfern
wurde nicht geglaubt, weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte.
Nach und nach tauchen schwarze Schatten auf. Kirche St. Theresia vom Kinde Jesu, Buckow, Berlin, 2018. |
Ich selbst war 2010, damals noch als
Jesuit, Religionslehrer am Canisius-Kolleg in Berlin und habe etwas
von den Dynamiken in Schule, Orden und Kirche mitbekommen, die
entstehen, wenn irgendwann öffentlich über Missbrauch in einer
Institution gesprochen wird. Auch dort wurde den Opfern in den 1980er
Jahren nicht geglaubt, als sie sich in einem Brief an die Leitung
wandten, auch dort wurden die Täter weiterversetzt und die Opfer
erst Jahrzehnte später wirklich gehört. P. Mertes wurde von
manchen Seiten als Nestbeschmutzer beschimpft, als er die Übergriffe
öffentlich machte.
Maßgeblich war für die damals Verantwortlichen hier wie dort der Schutz der
Insitution, nicht das Leid oder die Würde der Opfer.
Angesichts all dessen, der Übergriffe
selbst, des Nichthörens auf die Opfer, der Verschonung der Täter
und des systematischen Vertuschens der Taten kann das Vertrauen in
die Kirche und den Gott, den sie verkündet, so schwer beschädigt
werden, dass Menschen sich ganz davon abkehren.
Auch das ist zu einem guten Teil Folge
des Missbrauchs – die "Gottesmänner" haben durch ihr
abscheuliches Verhalten zur Abwendung von Gott beigetragen.
Wer als Opfer sexuellen Missbrauchs
oder als anderweitig stark Betroffener meint, er könne nach der
Aufdeckung solcher Taten nicht mehr glauben und nicht mehr zur Kirche
gehören, den kann ich bis zu einem gewissen Grad verstehen: Einer
Institution, die nur sich selbst und nicht die ihrer schwächsten
Mitglieder schützt, will auch ich nicht angehören.
2
Im Evangelium
des Sonntags (Joh 6,60-69) wendet sich der Großteil der Hörer
Jesu aus einem anderen Grund von ihm ab. Diese Abwendung ist nicht
vergleichbar mit der eben beschriebenen.
Denn da heißt es, dass jene, die Jesus
lange zugehört hatten und sogar mit ihm umhergezogen waren, aus
theologischen Gründen meinen, dass Jesus nun wirklich zu weit geht.
Erst bezeichnet er sich selbst als Brot des Lebens und dann behauptet
er gar, dass sein Leib zerkaut und sein Blut getrunken werden müsse (v55f).
Das klingt in dieser Form schon für
uns unappetitlich nach Menschenfresserei, aber für die Hörer der
damaligen Zeit war das noch viel weniger tragbar. Diejenigen, die aus
einem jüdischen Umfeld kamen, konnten sich nicht vorstellen, dass
Gottes Retter in solcher Erniedrigung anwesend sei und sich wie bei
heidnischen Mythen essen essen lasse. Der Gott der Bibel tut so etwas
nicht, er bleibt selbst majestätisch außerhalb des Geschehens.
Auch für diejenigen, die einen
griechischen Denkhintergrund hatten, lag hier das Problem: Sie
trennten strikt zwischen Körper und Seele, bei ihnen konnte nichts,
was Körper ist, mit Göttlichkeit zu tun haben. Die Vorstellung
einer Erlösung durch Blut und Körpereinsatz kam ihnen nicht in den
Sinn.
Für sie ist das, was Jesus da sagt,
eben schlichter Unsinn (die Griechen) oder sogar Gotteslästerung
(die Juden). Kein Wunder, dass sie gehen wollen - Christsein ist ihnen zu nah und zu krass.
Jesus scheint hier zwar noch einmal
einzulenken, wenn er sagt: "Der Geist ist es, der lebendig
macht; das Fleisch nützt nichts." (v63)
Doch mit "Fleisch" meint er menschliche Vorstellungen und Verstehensversuche, dagegen
stellt er die von Gott gegebene Erkenntnis, den "Geist",
den Gott schenken kann - oder eben nicht.
Jene, die es zuvor schon
"unerträglich"
(v60) fanden, was Jesus da sagte, stößt er so noch einmal vor den
Kopf, indem er ihnen so zu verstehen gibt, dass sie eben den Geist
Gottes nicht hätten, wenn sie nicht verstünden.
Ich lese das so: Jesus will die Leute
nicht unter Vorspiegelung falscher Tatsachen halten, sondern klar
machen, was es tatsächlich bedeutet, an ihn zu glauben: Nicht eine
bloß geistige und vom Körperlichen abgelöste Sache des Denkens,
sondern etwas, das mit Haut und Haaren fordert. Deshalb gibt er
selbst sich auch ganz und spricht uns Menschen nicht nur auf der
Verstandesebene an, sondern als ganze Menschen, mit Geist und Leib.
Aber das stülpt er ihnen nicht einfach
über: Jesus macht sich Menschen nicht gefügig, sondern lässt ihnen
die Freiheit. Das unterscheidet ihn ganz eminent von denen, die als
Männer der Kirche ihre Macht nutzten, um andere von sich abhängig
zu machen und sie sexuell zu missbrauchen.
Dieser Missbrauch ist schließlich,
theologisch gesprochen, die eigentliche Gotteslästerung. Denn mit
diesen Kleinen und Schwachen identifiziert sich Gott genauso wie mit
den Obdachlosen, Kranken, Gefangenen und Hungrigen: "Was ihr
einem von diesen getan habt, das habt ihr auch mir getan."
(vgl. Mt 25,40)
Seine engsten Freunde fragt er am Ende
noch einmal extra, ob auch sie ihn verlassen wollen. Und angesichts
der aktuell aufgedeckten Missbrauchsfälle frage ich mich, ob es nicht
besser gewesen wäre, wenn sie gegangen wären. Ob es nicht zu oft in
der Geschichte der Christen die Falschen waren, die geblieben sind.
Aber nein, es gibt genug Beispiele für
gute Priester und Bischöfe!
Und wenn wir sie ernst nehmen, wenn sie
wie Petrus in diesem Menschen Jesus den "Heiligen Gottes"
erkennen (v69), dann werden sie hoffentlich auch das Heilige in jedem
Menschen erkennen – und ihn mehr schützen als den Ruf der
Institution Kirche.
Heiliges erkennen lernen. Kirche St. Theresia vom Kinde Jesu, Buckow, Berlin, 2018. |
1 Ich
beziehe mich bei dem Folgenden vor allem auf folgende Artikel: (A)
Ausschnitte aus dem Bericht der Grand Jury in "Bitte hören Sie
uns zu!" Der Report der amerikanischen Missbrauchs-Aufklärer.
In: DIE ZEIT Nr. 35 vom 23.08.2018, S. 46; (B) Eindrücke und
Einordnungen von G. Brüntrup in
https://www.domradio.de/themen/weltkirche/2018-08-22/angst-vor-dem-gottesdienst-missbrauch-den-usa-deutscher-jesuit-ueber-die-wut-der-glaeubigen;
(C) Ausführungen von K. Mertes über seine Erfahrungen in
http://www.zdk.de/veroeffentlichungen/reden-und-beitraege/detail/Statement-von-Pater-Dr-Klaus-Mertes-SJ-zum-Umgang-mit-sexuellem-Missbrauch-in-der-Katholischen-Kirche-206w/
und (D) Ausschnitte aus dem Brief von Papst Franziskus an die
Gläubigen in
https://www.domradio.de/themen/weltkirche/2018-08-20/auszuege-aus-dem-brief-von-papst-franziskus-zu-missbrauch.