Samstag, 25. August 2018

Von zwei Gründen, kein Christ (mehr) zu sein.

Es gibt genügend Gründe, warum man der Meinung sein kann, es sei besser, kein Christ zu sein.
Ich fasse heute einmal zwei Beweggründe ins Auge, die weiter voneinander entfernt nicht sein können.
Es mögen nicht die gängigsten Gründe sein, aber sie sind auch nicht gänzlich ohne Relevanz.
1.
Derzeit schauen sehr viele US-Amerikaner und viele Menschen weltweit auf die ungeheuerlichen Taten von Priestern und Ordensleuten in den USA, die Kinder und Jugendliche zum Teil schwer sexuell missbraucht haben – und sie hören von der jahrelangen Vertuschung durch die Verantwortlichen.1

Dieses Thema raubt mir beim Schreiben alle Kraft.
Ich will keine Entsetzlichkeiten ausbreiten und mir wird schlecht, wenn ich lese, was genau passiert ist. Aber ich glaube, dass es wichtig ist, auszusprechen, in welcher Weise Kirchenleute hier auf die verschiedensten Weisen schuldig geworden sind.

Das Schwert des Erzengels Michael schwebt
drohend über dem Zelebranten der Liturgie.
Kirche St. Theresia vom Kinde Jesu, Buckow, Berlin, 2018.
Der Bericht der Grand Jury, der am 14. August in den USA vorgestellt wurde und Dokumente der letzten 70 Jahre in sechs Bistümern des Bundesstaates Pennsylvania zur Grundlage hat, ist ein Schock. Obwohl schon Anfang der 2000er Jahre in den USA viel sexueller Missbrauch innerhalb der katholischen Kirche aufgedeckt wurde, kamen nun nach Zeugenanhörungen und der Durchsicht vieler interner Dokumente noch einmal hunderte neuer Fälle ans Tageslicht.
Auch wenn sich laut Bericht in den letzten 15 Jahren sehr viel verändert hat und der Großteil der Fälle aus den 1970ern-1990er Jahren stammt, bleibt das angerichtete Unheil für die Einzelnen doch enorm.
Sehr ausführlich werden Taten und Namen in dem 884 Seiten umfassenden Bericht aufgezählt und dabei mehr als 300 mutmaßliche Täter benannt. Nicht alle Aussagen sind gerichtsfest und manche der Taten, die schon Jahrzehnte zurückliegen, werden nicht mehr im Deteil aufgeklärt werden können. Einige der Täter sind schon verstorben, die meisten Taten verjährt, aber für viele der Opfer ist es wichtig, dass die Verbrechen und die Verbrecher noch einmal beim Namen genannt werden. Auch jene Bischöfe und leitenden Kirchenmänner, die lange Jahre vertuschten, die Täter erst zur Therapie schickten und dann an einen weit entfernten Ort versetzten und sie nach ihrem Tod noch mit warmen Worten lobten, sind evident schuldig geworden.
Die Vertuschungsstrategien werden beschrieben als immergleiche (oder wenigstens sehr ähnliche) Abläufe: Die Taten abwiegeln und euphemistisch umschreiben (also etwa "Grenzüberschreitung" statt "Vergewaltigung"); Untersuchungen durch Interne durchführen lassen; psychiatrische Untersuchungen in kirchlichen Kliniken durchführen lassen; den Tätern den Großteil der Deutungsvollmacht über das Geschehen belassen; den Gemeinden bei Versetzung der Priester nur mitteilen, dass er aus gesundheitlichen Gründen gehen müsse; die Kleriker nicht suspendieren, sondern nur in andere Gemeinden versetzen.

Auf diese Weise wird ein entsetzliches System aus Machtmissbrauch, sexueller Gewalt, Männerbünden, religiöser Bemäntelung und Rechtsvereitelung sichtbar, das mir als Mitarbeiter dieser Kirche den Atem stocken lässt, auch weil dieses System einen unverkennbar "katholischen Geschmack" (K. Mertes) hat.
Denn religiöse Autoritäten (meist Priester) nutzen dabei ihre Stellung aus und machen sich Menschen auch durch religiösen Druck gefügig. Und höhere Autoritäten leiten mögliche Anschuldigungen so ab, dass den Tätern nichts passiert und die Opfer nicht frei sprechen können.

So schreibt auch Papst Franziskus als Reaktion auf diesen Bericht in seinem Brief an die Gläubigen in der letzten Woche von "einer anomalen Verständnisweise von Autorität in der Kirche [...]. Der Klerikalismus, sei er nun von den Priestern selbst oder von den Laien gefördert, erzeugt eine Spaltung im Leib der Kirche, die dazu anstiftet und beiträgt, viele der Übel, die wir heute beklagen, weiterlaufen zu lassen. Zum Missbrauch Nein zu sagen, heißt zu jeder Form von Klerikalismus mit Nachdruck Nein zu sagen."

Dazu kommt, dass die katholische Sexualmoral oft dazu geführt hat, Themen, in denen es um Sexualität geht, insgesamt nicht klar anzusprechen. Die verbreitete Sprachlosigkeit angesichts sexueller Themen in der katholischen Kirche ist auch eine der Antworten auf die Frage, die Klaus Mertes sich 2010 gestellt hat: "Was hat uns daran gehindert, solche Beschwerden zu hören und nachzufragen"? Wer solche Themen grundsätzlich nicht anspricht, wird auch nicht glauben können, was für entsetzliche Übergriffe geschehen können.
Das jedenfalls scheint die Erfahrung vieler Opfer sexueller Gewalt auch in Deutschland zu sein. Den Opfern wurde nicht geglaubt, weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte.

Nach und nach tauchen schwarze Schatten auf.
Kirche St. Theresia vom Kinde Jesu, Buckow, Berlin, 2018.
Ich selbst war 2010, damals noch als Jesuit, Religionslehrer am Canisius-Kolleg in Berlin und habe etwas von den Dynamiken in Schule, Orden und Kirche mitbekommen, die entstehen, wenn irgendwann öffentlich über Missbrauch in einer Institution gesprochen wird. Auch dort wurde den Opfern in den 1980er Jahren nicht geglaubt, als sie sich in einem Brief an die Leitung wandten, auch dort wurden die Täter weiterversetzt und die Opfer erst Jahrzehnte später wirklich gehört. P. Mertes wurde von manchen Seiten als Nestbeschmutzer beschimpft, als er die Übergriffe öffentlich machte.

Maßgeblich war für die damals Verantwortlichen hier wie dort der Schutz der Insitution, nicht das Leid oder die Würde der Opfer.

Angesichts all dessen, der Übergriffe selbst, des Nichthörens auf die Opfer, der Verschonung der Täter und des systematischen Vertuschens der Taten kann das Vertrauen in die Kirche und den Gott, den sie verkündet, so schwer beschädigt werden, dass Menschen sich ganz davon abkehren.
Auch das ist zu einem guten Teil Folge des Missbrauchs – die "Gottesmänner" haben durch ihr abscheuliches Verhalten zur Abwendung von Gott beigetragen.

Wer als Opfer sexuellen Missbrauchs oder als anderweitig stark Betroffener meint, er könne nach der Aufdeckung solcher Taten nicht mehr glauben und nicht mehr zur Kirche gehören, den kann ich bis zu einem gewissen Grad verstehen: Einer Institution, die nur sich selbst und nicht die ihrer schwächsten Mitglieder schützt, will auch ich nicht angehören.

2
Im Evangelium des Sonntags (Joh 6,60-69) wendet sich der Großteil der Hörer Jesu aus einem anderen Grund von ihm ab. Diese Abwendung ist nicht vergleichbar mit der eben beschriebenen.

Denn da heißt es, dass jene, die Jesus lange zugehört hatten und sogar mit ihm umhergezogen waren, aus theologischen Gründen meinen, dass Jesus nun wirklich zu weit geht. Erst bezeichnet er sich selbst als Brot des Lebens und dann behauptet er gar, dass sein Leib zerkaut und sein Blut getrunken werden müsse (v55f).
Das klingt in dieser Form schon für uns unappetitlich nach Menschenfresserei, aber für die Hörer der damaligen Zeit war das noch viel weniger tragbar. Diejenigen, die aus einem jüdischen Umfeld kamen, konnten sich nicht vorstellen, dass Gottes Retter in solcher Erniedrigung anwesend sei und sich wie bei heidnischen Mythen essen essen lasse. Der Gott der Bibel tut so etwas nicht, er bleibt selbst majestätisch außerhalb des Geschehens.
Auch für diejenigen, die einen griechischen Denkhintergrund hatten, lag hier das Problem: Sie trennten strikt zwischen Körper und Seele, bei ihnen konnte nichts, was Körper ist, mit Göttlichkeit zu tun haben. Die Vorstellung einer Erlösung durch Blut und Körpereinsatz kam ihnen nicht in den Sinn.
Für sie ist das, was Jesus da sagt, eben schlichter Unsinn (die Griechen) oder sogar Gotteslästerung (die Juden). Kein Wunder, dass sie gehen wollen - Christsein ist ihnen zu nah und zu krass.

Jesus scheint hier zwar noch einmal einzulenken, wenn er sagt: "Der Geist ist es, der lebendig macht; das Fleisch nützt nichts." (v63)
Doch mit "Fleisch" meint er menschliche Vorstellungen und Verstehensversuche, dagegen stellt er die von Gott gegebene Erkenntnis, den "Geist", den Gott schenken kann - oder eben nicht.
Jene, die es zuvor schon "unerträglich" (v60) fanden, was Jesus da sagte, stößt er so noch einmal vor den Kopf, indem er ihnen so zu verstehen gibt, dass sie eben den Geist Gottes nicht hätten, wenn sie nicht verstünden.

Ich lese das so: Jesus will die Leute nicht unter Vorspiegelung falscher Tatsachen halten, sondern klar machen, was es tatsächlich bedeutet, an ihn zu glauben: Nicht eine bloß geistige und vom Körperlichen abgelöste Sache des Denkens, sondern etwas, das mit Haut und Haaren fordert. Deshalb gibt er selbst sich auch ganz und spricht uns Menschen nicht nur auf der Verstandesebene an, sondern als ganze Menschen, mit Geist und Leib.

Aber das stülpt er ihnen nicht einfach über: Jesus macht sich Menschen nicht gefügig, sondern lässt ihnen die Freiheit. Das unterscheidet ihn ganz eminent von denen, die als Männer der Kirche ihre Macht nutzten, um andere von sich abhängig zu machen und sie sexuell zu missbrauchen.

Dieser Missbrauch ist schließlich, theologisch gesprochen, die eigentliche Gotteslästerung. Denn mit diesen Kleinen und Schwachen identifiziert sich Gott genauso wie mit den Obdachlosen, Kranken, Gefangenen und Hungrigen: "Was ihr einem von diesen getan habt, das habt ihr auch mir getan." (vgl. Mt 25,40)

Seine engsten Freunde fragt er am Ende noch einmal extra, ob auch sie ihn verlassen wollen. Und angesichts der aktuell aufgedeckten Missbrauchsfälle frage ich mich, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn sie gegangen wären. Ob es nicht zu oft in der Geschichte der Christen die Falschen waren, die geblieben sind.
Aber nein, es gibt genug Beispiele für gute Priester und Bischöfe!
Und wenn wir sie ernst nehmen, wenn sie wie Petrus in diesem Menschen Jesus den "Heiligen Gottes" erkennen (v69), dann werden sie hoffentlich auch das Heilige in jedem Menschen erkennen – und ihn mehr schützen als den Ruf der Institution Kirche.

Heiliges erkennen lernen.
Kirche St. Theresia vom Kinde Jesu, Buckow, Berlin, 2018.


1   Ich beziehe mich bei dem Folgenden vor allem auf folgende Artikel: (A) Ausschnitte aus dem Bericht der Grand Jury in "Bitte hören Sie uns zu!" Der Report der amerikanischen Missbrauchs-Aufklärer. In: DIE ZEIT Nr. 35 vom 23.08.2018, S. 46; (B) Eindrücke und Einordnungen von G. Brüntrup in https://www.domradio.de/themen/weltkirche/2018-08-22/angst-vor-dem-gottesdienst-missbrauch-den-usa-deutscher-jesuit-ueber-die-wut-der-glaeubigen; (C) Ausführungen von K. Mertes über seine Erfahrungen in http://www.zdk.de/veroeffentlichungen/reden-und-beitraege/detail/Statement-von-Pater-Dr-Klaus-Mertes-SJ-zum-Umgang-mit-sexuellem-Missbrauch-in-der-Katholischen-Kirche-206w/ und (D) Ausschnitte aus dem Brief von Papst Franziskus an die Gläubigen in https://www.domradio.de/themen/weltkirche/2018-08-20/auszuege-aus-dem-brief-von-papst-franziskus-zu-missbrauch.