Donnerstag, 2. August 2018

Neue religiöse Lyrik in "Der Himmel von morgen". Eine Rezension

Die Poeten haben ihren Blick seit je über das allzu Greifbare hinaus auf religiöse Themen gelenkt. Nicht umsonst ringt Lyrik in allen Kulturkreisen mit ihren Worten darum, Unsagbares auszuloten und Unausdenkliches anzudeuten.

Anton G. Leitner, selbst Lyriker und zugleich Verleger und Herausgeber, hat dieser Tage nun eine kleine Anthologie zeitgenössischer religiöser Gedichte vorgelegt. "Der Himmel von morgen. Gedichte über Gott und die Welt"1 versammelt 100 Texte, die auf unterschiedlichste Weise das Religiöse zum Thema haben. In unserer Gesellschaft, die sich von religiösen Phänomenen intellektuell und persönlich eher absetzen will, bietet diese Sammlung damit eine Art Versöhnung von Hochkultur und Religion auf der Höhe der Zeit an.

Eine Kostprobe zu Beginn:
Das philosophisch anmutende Gedicht "Die Glut durchwühlen" von Norbert Göttler wird durchzogen vom Widerspruch analytischer und synthetischer Weltdeutung.

Blick zurück zum Segel.
Heiligkreuzkirche, Kreuzberg, Berlin, 2018.
Die Glut durchwühlen

Wer die Glut durchwühlt,
wird nicht das Wesen des Feuers begreifen,
sondern es zum Erlöschen bringen.

Wer Farbe von Gemälden kratzt,
wird nicht die Kunst verstehen,
sondern nackte Leinwand finden.

Wer Sterne nach ihrer Zahl berechnet,
wird nicht den Himmel finden,
sondern an der Unendlichkeit verzweifeln.2


Im Gegensatz zu dieser existenziellen Annäherung setzen sich viele der Autorinnen und Autoren, so wie Judith-Katja Raab mit "Ketzerisches Credo" oder Gerald Jatzek mit "Ökonomisches Konzil", kritisch vom volkskirchlichen Christsein ab.
Andere interpretieren klassische Sujets neu, wie es Gert Heidenreich in seiner bewegenden "Kreuzabnahme" tut. Insgesamt dominieren biblische Anklänge, die mehr oder weniger spielerisch das bekannte bis allzu bekannte Figurenensemble von Jona und Amos über Judas und Isaak bis zu Rahel auffahren. Auch liturgische Erinnerungen oder Kirchenorte zeigen die Verwurzelung vieler Autoren im christlichen Milieu.
Auffällig ist dabei, wie häufig humoristische und ironische Annäherungen sind: "Kapitalistisches Glaubensbekenntnis" von Matthias Kröner, das "Gebt des Karpfens zur Weihnachtszeit" von Renate Buddensiek oder ein raffiniertes "Lob der Beichte" von Jochen Stüsser-Simpson gehören dazu.

Bei allen Ansätzen zur Distanzierung ist die Auswahl zugleich geprägt von aufmerksamen Suchbewegungen im religiösen Terrain. Einfach übernommene Bekenntnisse oder Lobeshymnen auf den allzu sicher geglaubten Gott finden sich dagegen kaum und stünden zeitgenössischer Lyrik auch schlecht zu Gesicht.
Demgegenüber sind viele Zusammenstellungen eher ungewöhnlich, so etwa wenn ein "Stuntman", die "Schurkenstaaten", das "Gurkenglas" oder ein "Lungenarzt" helfen, Religiöses sagbarer zu machen.

Und das gelingt in vielen Fällen sehr gut und ist durchaus anregend.
Besonders spannend zeigt sich die religiöse Zerrissenheit des lyrischen Ichs bei Holger Küls:

Erlöserkirche
Ins Blau gehängt.
Kronleuchter, Schloss Schwante, 2018.

Wie er mich anschaut
Jesus hat etwas Mildes
die Arme ausgebreitet

von mühselig und
beladen ist die Rede
von Ankunft und Erquicken

monoton von vorn
der Gottesdienst dauert
bis in Ewigkeit Amen

Gelegenheit für weltliche
Gedanken an Fußball
auf dem Bolzplatz

früher hinter dem alten
Bahnhof gegenüber der
Kirche zum Beispiel3

Innere Ergriffenheit und Banalität stehen hier in hartem Kontrast zueinander und vermitteln wohltuend glaubwürdig das heutige Ringen um religiöse Bedeutungen.
In anderen Fällen wundere ich mich, wie es Gedichte in die Sammlung geschafft haben, beispielsweise wenn Alfons Schweiggert in "Warum?" Gott wegen des Schicksals der Eintagsfliege befragt oder Babette Werth versucht, aus den pastoral verschlissenen Vorsilben des Wörtchens "einander" noch etwas herauszuholen.

Im Großen und Ganzen aber halte ich die Auswahl für sehr gelungen, wenn es darum geht, die Fragen und Zweifel, aber auch die Sehnsüchte hinsichtlich des Religiösen ins Wort zu fassen. Lyrik, die mit ihren religiösen Sondierungen die Tiefe der Welt und ihr Darüberhinaus entdecken will, verdient ein breites Publikum.
Wer sich also zu Perspektivwechseln inspirieren lassen will und auch vor Irritationen nicht zurückschreckt, dem kann die Sammlung eine sehr hilfreiche Lektüre sein.

Darum zum Schluss noch ein wunderbares Beispiel für mögliche Neuentdeckungen in religiösen Gefilden, wenn sie durch die Augen eines Lyrikers wie Alex Dreppec gesehen werden:

Wasserläufer

Was sagt der Wasserläufer zu Jesus
Was der Haubentaucher
Zum Wiedertäufer
Wie sieht der Mauersegler
Die Klagemauer
Wie die Möwe die auffahrende Seele
Über dem Himmel
Der luftleere Raum
Was sagen die Schafe zum Hirten
Der Hirte zum Schlächter
Wie sieht der Sensenmann
Den Mähdrescher
Was sagt der Friedhofsmaulwurf zu Gott
Unter der Erde
Wo er den
Himmel vermutet4

Blick hindurch-hinaus.
Leipzig, 2018.

1   A. G. Leitner, Der Himmel von morgen. Gedichte über Gott und die Welt. Ditzingen 2018.
2   Ebd., 103.
3   Ebd., 58.
4   Ebd., 40.