Die Poeten haben ihren
Blick seit je über das allzu Greifbare hinaus auf religiöse Themen
gelenkt. Nicht umsonst ringt Lyrik in allen Kulturkreisen mit ihren
Worten darum, Unsagbares auszuloten und Unausdenkliches anzudeuten.
Anton G. Leitner, selbst
Lyriker und zugleich Verleger und Herausgeber, hat dieser Tage nun
eine kleine Anthologie zeitgenössischer religiöser Gedichte
vorgelegt. "Der Himmel von morgen. Gedichte über Gott und
die Welt"1
versammelt 100 Texte, die auf unterschiedlichste Weise das Religiöse
zum Thema haben. In unserer Gesellschaft, die sich von religiösen Phänomenen intellektuell und persönlich eher absetzen will, bietet diese Sammlung damit eine Art
Versöhnung von Hochkultur und Religion auf der Höhe der Zeit an.
Eine Kostprobe zu Beginn:
Das philosophisch anmutende Gedicht "Die
Glut durchwühlen" von Norbert Göttler wird durchzogen vom
Widerspruch analytischer und synthetischer Weltdeutung.
Blick zurück zum Segel. Heiligkreuzkirche, Kreuzberg, Berlin, 2018. |
Die Glut durchwühlen
Wer die Glut
durchwühlt,
wird nicht das Wesen
des Feuers begreifen,
sondern es zum
Erlöschen bringen.
Wer Farbe von Gemälden
kratzt,
wird nicht die Kunst
verstehen,
sondern nackte Leinwand
finden.
Wer Sterne nach ihrer
Zahl berechnet,
wird nicht den Himmel
finden,
sondern an der
Unendlichkeit verzweifeln.2
Im Gegensatz zu dieser
existenziellen Annäherung setzen sich viele der Autorinnen und
Autoren, so wie Judith-Katja Raab mit "Ketzerisches Credo"
oder Gerald Jatzek mit "Ökonomisches Konzil",
kritisch vom volkskirchlichen Christsein ab.
Andere interpretieren
klassische Sujets neu, wie es Gert Heidenreich in seiner bewegenden
"Kreuzabnahme" tut. Insgesamt dominieren biblische
Anklänge, die mehr oder weniger spielerisch das bekannte bis allzu
bekannte Figurenensemble von Jona und Amos über Judas und Isaak bis
zu Rahel auffahren. Auch liturgische Erinnerungen oder Kirchenorte
zeigen die Verwurzelung vieler Autoren im christlichen Milieu.
Auffällig ist dabei, wie
häufig humoristische und ironische Annäherungen sind:
"Kapitalistisches Glaubensbekenntnis" von Matthias
Kröner, das "Gebt des Karpfens zur Weihnachtszeit"
von Renate Buddensiek oder ein raffiniertes "Lob der Beichte"
von Jochen Stüsser-Simpson gehören dazu.
Bei allen Ansätzen zur
Distanzierung ist die Auswahl zugleich geprägt von aufmerksamen
Suchbewegungen im religiösen Terrain. Einfach übernommene
Bekenntnisse oder Lobeshymnen auf den allzu sicher geglaubten Gott
finden sich dagegen kaum und stünden zeitgenössischer Lyrik auch
schlecht zu Gesicht.
Demgegenüber sind viele
Zusammenstellungen eher ungewöhnlich, so etwa wenn ein "Stuntman",
die "Schurkenstaaten", das "Gurkenglas"
oder ein "Lungenarzt" helfen, Religiöses sagbarer
zu machen.
Und das gelingt in vielen
Fällen sehr gut und ist durchaus anregend.
Besonders spannend zeigt
sich die religiöse Zerrissenheit des lyrischen Ichs bei Holger Küls:
Wie er mich anschaut
Jesus hat etwas Mildes
die Arme ausgebreitet
von mühselig und
beladen ist die Rede
von Ankunft und
Erquicken
monoton von vorn
der Gottesdienst dauert
bis
in Ewigkeit Amen
Gelegenheit für
weltliche
Gedanken an Fußball
auf dem Bolzplatz
früher hinter dem
alten
Bahnhof gegenüber der
Kirche zum Beispiel3
Innere Ergriffenheit und
Banalität stehen hier in hartem Kontrast zueinander und vermitteln
wohltuend glaubwürdig das heutige Ringen um religiöse Bedeutungen.
In anderen Fällen wundere
ich mich, wie es Gedichte in die Sammlung geschafft haben,
beispielsweise wenn Alfons Schweiggert in "Warum?"
Gott wegen des Schicksals der Eintagsfliege befragt oder Babette
Werth versucht, aus den pastoral verschlissenen Vorsilben des
Wörtchens "einander" noch etwas herauszuholen.
Im Großen und Ganzen aber
halte ich die Auswahl für sehr gelungen, wenn es darum geht, die Fragen und Zweifel, aber auch die Sehnsüchte hinsichtlich des Religiösen ins Wort zu fassen. Lyrik, die mit ihren
religiösen Sondierungen die Tiefe der Welt und ihr Darüberhinaus
entdecken will, verdient ein breites Publikum.
Wer sich also zu
Perspektivwechseln inspirieren lassen will und auch vor Irritationen
nicht zurückschreckt, dem kann die Sammlung eine sehr hilfreiche
Lektüre sein.
Darum zum Schluss noch ein
wunderbares Beispiel für mögliche Neuentdeckungen in religiösen
Gefilden, wenn sie durch die Augen eines Lyrikers wie Alex Dreppec
gesehen werden:
Wasserläufer
Was sagt der
Wasserläufer zu Jesus
Was der Haubentaucher
Zum Wiedertäufer
Wie sieht der
Mauersegler
Die Klagemauer
Wie die Möwe die
auffahrende Seele
Über dem Himmel
Der luftleere Raum
Was sagen die Schafe
zum Hirten
Der Hirte zum
Schlächter
Wie sieht der
Sensenmann
Den Mähdrescher
Was sagt der
Friedhofsmaulwurf zu Gott
Unter der Erde
Wo er den
Himmel vermutet4
Blick hindurch-hinaus. Leipzig, 2018. |
1 A.
G. Leitner, Der Himmel von morgen. Gedichte über Gott und die Welt.
Ditzingen 2018.
2 Ebd.,
103.
3 Ebd.,
58.
4 Ebd.,
40.