Samstag, 4. August 2018

"Ich weiß gar nicht, was der eigentlich will!" Gefängnispredigt von Brot und Liebe.

1. "Ich weiß gar nicht, was der eigentlich will!"
So denke ich manchmal, wenn ich mich mit Leuten unterhalte, die überzeugte Autofahrer sind und die versuchen, mir ihre Überzeugung zu erklären. Dass es so praktisch sei und schön und was weiß ich. Wo ein Auto doch meiner Meinung nach nur teuer und schmutzig ist und man jedes Mal ewig einen Parkplatz suchen muss. Außerdem ist man in Berlin ohne Auto sowieso schneller.

Man kann bei solchen Gelegenheiten sehr schnell in einen Konflikt hineingeraten, weil man mit zwei völlig unterschiedlichen Denkmustern im Kopf versucht, dem jeweiligen Gegenüber seinen Standpunkt klar zu machen.

So muss es wohl auch den Zuhörern Jesu mit ihm oft genug gegangen sein.
"Ich weiß gar nicht, was der eigentlich will!"
Was das nun wieder soll...?!
Giraffengehege, Zoologischer Garten, Berlin, 2017.
Wenn die Leute Jesus fragen, wann er ankam, antwortet der mit einem Hinweis darauf, warum sie hier sind. Wenn sie ihn fragen, welche Werke sie tun müssen, spricht er von einem einzigen Werk, das aber noch nicht einmal ein Tun ist, nämlich an ihn zu glauben. Und als sie ihn darauf hinweisen, dass er dann irgendetwas tun muss, damit sie an ihn glauben, so wie Mose ihren Vorfahren in der Wüste Brot zu essen gab, weicht er aus und spricht von einem völlig anderen Brot.
Was beim Evangelientext des Sonntags penetrant auffällt, ist dieses ständige Aneinander-vorbei-Reden. Jesus und die Leute scheinen in völlig unterschiedlichen Denkwelten unterwegs zu sein, so dass ein Verstehen für sie äußerst schwierig ist.

Sie kennen das natürlich.
Dort ist der Vollzugsdienst, der will, dass alles ruhig abläuft, keine krummen Geschäfte abgewickelt werden und jeder friedlich bleibt. Hier sind Sie als Inhaftierte, die unter vielfachem Druck stehen und sehen müssen, dass Sie auf den verschiedensten Ebenen über die Runden kommen.
Dort sind die Gruppenleiter, die Ihnen wahrscheinlich Angebote machen und Sie herausfordern wollen, manchmal auch zur Geduld mahnen. Hier sind Sie in der Hoffnung auf schnellstmögliche Lockerung oder andere Möglichkeiten, aus der Zeit hier das Beste zu machen.

Auch Sie sind in unterschiedlichen Welten unterwegs und müssen versuchen, auf irgendeiner Ebene miteinander zurecht zu kommen.

Als Mitarbeiter der katholischen Kirche weiß auch ich, wie oft Christen und ihre Prediger oder die Bischöfe aneinander und an dem nichtchristlichen Teil der Menschen vorbeireden.
Sünde und Erlösung, Gnade und Erbarmen, Fegefeuer und Paradies sind zwar bekannte Begriffe, aber was Christen wirklich damit meinen, ist selten klar.

"Ich will mal versuchen zu verstehen, was die eigentlich wollen", wäre eine gute Haltung für uns Christen, besonders für jene, die im Dienst der Kirchen stehen.
Jesus scheint trotz des ständigen Nebeneinanders jedenfalls den Punkt bei seinen Gesprächspartnern getroffen zu haben: Die Leute wollen das, von dem er letztlich spricht, tatsächlich.
Davon nun im zweiten Punkt.

2. "Plötzlich war ich hungrig nach dem Leben außerhalb"
Denn diese Leute haben Hunger. Nicht dass ihnen der Bauch knurren würde, Jesus selbst hatte am Abend zuvor schließlich noch dafür gesorgt, dass sich alle satt essen konnten und sogar eine Menge übrig blieb.
Nein, der Hunger dieser Menschen geht tiefer. Sie wollen von Jesus das Brot, das der ganzen "Welt das Leben gibt" (v33), wünschen sich etwas, das ihre Lebenswirklichkeit erfüllt und das sie doch nicht in sich selbst finden können.
Diesen Hunger spüren auch viele von uns in sich.
Es ist ein Hunger nach mehr Leben. Nach Anerkennung, nach Intensität, nach Ausbruch aus der Enge des eigenen Lebens, nach Zugehörigkeit...

Ich nenne Ihnen ein Beispiel aus einem Buch, das ich gerade gelesen habe. Jacqueline Woodson beschreibt in "Ein anderes Brooklyn."1 die Lebensumstände des schwarzen Mädchens August in den 1970ern.
Abgehängte Gegend.
Neukölln, Berlin, 2015.
Und sie beschreibt ihren Hunger nach einem Leben außerhalb der abgewrackten Häuser und Straßen, aus denen nach und nach alle Weißen fortziehen, so dass die farbigen Armen aus Puerto Rico, aus Mexiko und aus dem Süden der Vereinigten Staaten nachrücken. Es ist der Hunger nach dem Ausbruch aus einer Welt, in der Frauen, zumal die jungen, vornehmlich Sexobjekte sind, aus einer Welt, in der die allgegenwärtigen Drogen die Menschen in ihren Sumpf ziehen, aus einer Welt der Hoffnungslosigkeit, in der Mädchen ohne ihre Mütter aufwachsen und minderjährige Schwangere ebenso wie häusliche Gewalt die Regel sind.
Nicht dass August dies als ein unerträgliches Leben empfinden würde, aber nach und nach merkt sie, dass ihr dies nicht reicht. Lange betrügt sie sich und ihren kleinen Bruder mit der Illusion, irgendwann werde ihre Mutter schon zurückkommen. Ihr Vater wiederum lässt sich von der Nation of Islam, einer sektiererischen Bewegung von us-amerikanischen Schwarzen, die sich lose auf den Islam berufen, ansprechen.
Eine Zeit lang findet die Protagonistin Trost in ihrer Mädchenclique, Freundinnen, die sich in ihrer ganz unterschiedlichen Verlorenheit gegenseitig Halt geben, aber die pubertären Irrungen und elterlicher Druck treiben sie nach und nach auseinander. Eine wird von ihren Eltern auf Leistung getrimmt, eine andere tanzt für ihr Leben gern – und August erkennt: "Plötzlich war ich hungrig nach dem Leben außerhalb Brooklyns, nach etwas Komplizierterem, Größeren. [...] fasziniert von den vielen Orten dort draußen, jenseits von Brooklyn – Mumbai, Kathmandu, Barcelona –, überall, nur nicht hier."2

Es ist dieser Hunger nach mehr, der sie motiviert, den Ausbruch zu wagen. Eine Unzufriedenheit mit dem status quo, angetrieben von der Sehnsucht nach mehr und intensiverem Leben.
Es ist meiner Meinung nach der gleiche Hunger, der Menschen in Afrika dazu treibt, ihre Heimat zu verlassen und sich auf kleinen Booten auf den Weg über das Mittelmeer zu machen. Der gleiche Hunger, der viele Menschen anspornt, sich in Parteien, Gewerkschaften oder eben in der Kirche für eine bessere Gesellschaft zu engagieren.
Sogar der gleiche Hunger, der manche hinter Gitter bringt, weil sie verzweifelt versuchen, diesen Hunger nach mehr auf kriminelle Weise zu stillen.

Wie aber ist dieser Hunger wirklich zu stillen?

3. "Ich bin das Brot des Lebens; wer zu mir kommt, wird nie mehr hungern" (v35)
Die Protagonistin von Woodsons Roman tut dies durch Bildung. Sicher nicht der schlechteste Weg, um sich einem erfüllten Leben anzunähern.
Das Evangelium macht jedoch einen anderen Vorschlag: es ist Jesus selbst, der den Hunger stillt.
Dazu noch einmal ein Blick in den Text:

Zunächst heißt es da in Vers 32: "mein Vater gibt euch das wahre Brot vom Himmel."
Das, was wirklich satt macht, wird gegeben. Nicht genommen oder erarbeitet, sondern gegeben, es ist Geschenk. Natürlich kann ich mich vorbereiten, dieses Geschenk auch anzunehmen und in mir fruchtbar werden zu lassen – aber es ist ein Geschenk, das ich nicht einfordern oder erschleichen kann. 

Das hat auch mit dem nächsten Punkt zu tun, dass von diesem Geschenk nämlich gesagt wird, es "kommt vom Himmel herab" (v33). Dieses Geschenk ist also nichts passives, das einfach nur weitergereicht wird, sondern es – oder besser: er – macht sich selbst auf den Weg zu uns. Er kommt als Geschenk und das vom Himmel, die Erfüllung unseres Lebens ist nicht von dieser Welt.

Schließlich kommt die finale Auflösung in Vers 35: "Ich bin das Brot des Lebens; wer zu mir kommt, wird nie mehr hungern, und wer an mich glaubt, wird nie mehr Durst haben."
Jesus ist Gottes Geschenk an die Welt, ein Geschenk aber, das selbstbestimmt Kontakt mit uns aufnehmen will und uns über die sichtbare Welt hinausführt. Hunger und Durst nach Leben werden durch ihn, der das Leben selbst ist, gestillt. 

Das tut er durch seine Liebe zu uns. Ich weise manchmal auf die etwas kitschigen Jesusbilder hin, die hier mitgenommen werden können. Auch wenn ich aus ästhetischen Gründen andere Jesusbilder bevorzuge, zeigt dieser Barmherzige Jesus mit seinem liebevollen Blick doch das eigentlich Wichtige des christlichen Glaubens: Gott schaut uns in Jesus liebevoll an. Er liebt uns aus vollstem Herzen, so sehr, dass er sich selbst für uns verschwendet – und am Abend vor seinem Tod beim Mahl mit den Seinen wieder das Bild des gebrochenen Brotes verwendet. (Aber darüber in der nächsten Woche mehr.)

Das Gefühl, so unglaublich geliebt zu werden, kann unser Herz erfüllen und satt machen, auch wenn wir noch so oft aneinander und an Jesus vorbeireden und -leben. Die Liebe füllt die Gräben unseres Unverständnisses problemlos auf.
Denn Jesus hat als Mensch verstanden, was wir eigentlich wollen – und er bietet es uns an.
Der große Hunger in uns, der nicht will, dass unser Leben so bleibt, wie es jetzt ist, dieser Hunger muss nicht mit Drogen oder eigener Stärke gestillt werden.

Denn wir bekommen das Wichtigste geschenkt. Dazu müssen wir uns einlassen auf die Beziehung mit ihm – wir werden geliebt und lernen, ihn und mit ihm mehr und mehr alle Menschen zu lieben.

Eine große Vision. Aber eine, die seit 2000 Jahren gut durchgebacken ist und darauf wartet, weiter gelebt zu werden.

Die Liebe glaubt alles, erträgt alles, hofft alles.
Pietá, Kapelle im Wilhelm-Kempf-Haus, Naurod, 2018.

1   J. Woodson, Ein anderes Brooklyn. München 2018.


2   Ebd., 133.137.