1. "Ich weiß gar
nicht, was der eigentlich will!"
So denke ich manchmal,
wenn ich mich mit Leuten unterhalte, die überzeugte Autofahrer sind
und die versuchen, mir ihre Überzeugung zu erklären. Dass es so
praktisch sei und schön und was weiß ich. Wo ein Auto doch meiner
Meinung nach nur teuer und schmutzig ist und man jedes Mal ewig einen
Parkplatz suchen muss. Außerdem ist man in Berlin ohne Auto sowieso
schneller.
Man kann bei solchen
Gelegenheiten sehr schnell in einen Konflikt hineingeraten, weil man
mit zwei völlig unterschiedlichen Denkmustern im Kopf versucht, dem
jeweiligen Gegenüber seinen Standpunkt klar zu machen.
So muss es wohl auch den
Zuhörern Jesu mit ihm oft genug gegangen sein.
Was das nun wieder soll...?! Giraffengehege, Zoologischer Garten, Berlin, 2017. |
Wenn die Leute Jesus
fragen, wann er ankam, antwortet der mit einem Hinweis darauf, warum
sie hier sind. Wenn sie ihn fragen, welche Werke sie tun müssen,
spricht er von einem einzigen Werk, das aber noch nicht einmal ein
Tun ist, nämlich an ihn zu glauben. Und als sie ihn darauf
hinweisen, dass er dann irgendetwas tun muss, damit sie an ihn
glauben, so wie Mose ihren Vorfahren in der Wüste Brot zu essen gab,
weicht er aus und spricht von einem
völlig anderen Brot.
Was beim Evangelientext des Sonntags penetrant auffällt, ist dieses ständige
Aneinander-vorbei-Reden. Jesus und die Leute scheinen in völlig
unterschiedlichen Denkwelten unterwegs zu sein, so dass ein Verstehen
für sie äußerst schwierig ist.
Sie kennen das natürlich.
Dort ist der
Vollzugsdienst, der will, dass alles ruhig abläuft, keine krummen
Geschäfte abgewickelt werden und jeder friedlich bleibt. Hier sind
Sie als Inhaftierte, die unter vielfachem Druck stehen und sehen
müssen, dass Sie auf den verschiedensten Ebenen über die Runden
kommen.
Dort sind die
Gruppenleiter, die Ihnen wahrscheinlich Angebote machen und Sie
herausfordern wollen, manchmal auch zur Geduld mahnen. Hier sind Sie
in der Hoffnung auf schnellstmögliche Lockerung oder andere
Möglichkeiten, aus der Zeit hier das Beste zu machen.
Auch Sie sind in
unterschiedlichen Welten unterwegs und müssen versuchen, auf
irgendeiner Ebene miteinander zurecht zu kommen.
Als Mitarbeiter der
katholischen Kirche weiß auch ich, wie oft Christen und ihre
Prediger oder die Bischöfe aneinander und an dem nichtchristlichen
Teil der Menschen vorbeireden.
Sünde und Erlösung,
Gnade und Erbarmen, Fegefeuer und Paradies sind zwar bekannte
Begriffe, aber was Christen wirklich damit meinen, ist selten klar.
"Ich will mal
versuchen zu verstehen, was die eigentlich wollen", wäre eine
gute Haltung für uns Christen, besonders für jene, die im Dienst
der Kirchen stehen.
Jesus scheint trotz des
ständigen Nebeneinanders jedenfalls den Punkt bei seinen
Gesprächspartnern getroffen zu haben: Die Leute wollen das, von dem
er letztlich spricht, tatsächlich.
Davon nun im zweiten
Punkt.
2. "Plötzlich war
ich hungrig nach dem Leben außerhalb"
Denn diese Leute haben
Hunger. Nicht dass ihnen der Bauch knurren würde, Jesus selbst hatte
am Abend zuvor schließlich noch dafür gesorgt, dass sich alle satt
essen konnten und sogar eine Menge übrig blieb.
Nein, der Hunger dieser
Menschen geht tiefer. Sie wollen von Jesus das Brot, das der ganzen
"Welt das Leben gibt" (v33), wünschen sich etwas,
das ihre Lebenswirklichkeit erfüllt und das sie doch nicht in sich
selbst finden können.
Diesen Hunger spüren auch
viele von uns in sich.
Es ist ein Hunger nach
mehr Leben. Nach Anerkennung, nach Intensität, nach Ausbruch aus der
Enge des eigenen Lebens, nach Zugehörigkeit...
Ich nenne Ihnen ein
Beispiel aus einem Buch, das ich gerade gelesen habe. Jacqueline
Woodson beschreibt in "Ein anderes Brooklyn."1
die Lebensumstände des schwarzen Mädchens August in den 1970ern.
Abgehängte Gegend. Neukölln, Berlin, 2015. |
Und sie beschreibt ihren
Hunger nach einem Leben außerhalb der abgewrackten Häuser und
Straßen, aus denen nach und nach alle Weißen fortziehen, so dass
die farbigen Armen aus Puerto Rico, aus Mexiko und aus dem Süden der
Vereinigten Staaten nachrücken. Es ist der Hunger nach dem Ausbruch
aus einer Welt, in der Frauen, zumal die jungen, vornehmlich
Sexobjekte sind, aus einer Welt, in der die allgegenwärtigen Drogen
die Menschen in ihren Sumpf ziehen, aus einer Welt der
Hoffnungslosigkeit, in der Mädchen ohne ihre Mütter aufwachsen und
minderjährige Schwangere ebenso wie häusliche Gewalt die
Regel sind.
Nicht dass August dies als ein
unerträgliches Leben empfinden würde, aber nach und nach merkt sie, dass ihr dies nicht reicht. Lange betrügt sie sich und ihren
kleinen Bruder mit der Illusion, irgendwann werde ihre Mutter schon
zurückkommen. Ihr Vater wiederum lässt sich von der Nation of
Islam, einer sektiererischen Bewegung von us-amerikanischen
Schwarzen, die sich lose auf den Islam berufen, ansprechen.
Eine Zeit lang findet die
Protagonistin Trost in ihrer Mädchenclique, Freundinnen, die sich in
ihrer ganz unterschiedlichen Verlorenheit gegenseitig Halt geben,
aber die pubertären Irrungen und elterlicher Druck treiben sie nach
und nach auseinander. Eine wird von ihren Eltern auf Leistung
getrimmt, eine andere tanzt für ihr Leben gern – und August
erkennt: "Plötzlich war ich hungrig nach dem Leben außerhalb
Brooklyns, nach etwas Komplizierterem, Größeren. [...] fasziniert
von den vielen Orten dort draußen, jenseits von Brooklyn – Mumbai,
Kathmandu, Barcelona –, überall, nur nicht hier."2
Es ist dieser Hunger nach
mehr, der sie motiviert, den Ausbruch zu wagen. Eine Unzufriedenheit
mit dem status quo, angetrieben von der Sehnsucht nach mehr und
intensiverem Leben.
Es ist meiner Meinung nach
der gleiche Hunger, der Menschen in Afrika dazu treibt, ihre Heimat
zu verlassen und sich auf kleinen Booten auf den Weg über das
Mittelmeer zu machen. Der gleiche Hunger, der viele Menschen
anspornt, sich in Parteien, Gewerkschaften oder eben in der Kirche
für eine bessere Gesellschaft zu engagieren.
Sogar der gleiche Hunger,
der manche hinter Gitter bringt, weil sie verzweifelt versuchen,
diesen Hunger nach mehr auf kriminelle Weise zu stillen.
Wie aber ist dieser Hunger
wirklich zu stillen?
3. "Ich bin das
Brot des Lebens; wer zu mir kommt, wird nie mehr hungern" (v35)
Die Protagonistin von
Woodsons Roman tut dies durch Bildung. Sicher nicht der schlechteste
Weg, um sich einem erfüllten Leben anzunähern.
Das Evangelium macht
jedoch einen anderen Vorschlag: es ist Jesus selbst, der den Hunger
stillt.
Dazu noch einmal ein Blick
in den Text:
Zunächst heißt es da in
Vers 32: "mein Vater gibt euch das wahre Brot vom Himmel."
Das, was wirklich satt
macht, wird gegeben. Nicht genommen oder erarbeitet, sondern gegeben,
es ist Geschenk. Natürlich kann ich mich vorbereiten, dieses
Geschenk auch anzunehmen und in mir fruchtbar werden zu lassen –
aber es ist ein Geschenk, das ich nicht einfordern oder erschleichen kann.
Das hat auch mit dem
nächsten Punkt zu tun, dass von diesem Geschenk nämlich gesagt
wird, es "kommt vom Himmel herab" (v33). Dieses
Geschenk ist also nichts passives, das einfach nur weitergereicht
wird, sondern es – oder besser: er – macht sich selbst auf den
Weg zu uns. Er kommt als Geschenk und das vom Himmel, die Erfüllung
unseres Lebens ist nicht von dieser Welt.
Schließlich kommt die
finale Auflösung in Vers 35: "Ich bin das Brot des Lebens;
wer zu mir kommt, wird nie mehr hungern, und wer an mich glaubt, wird
nie mehr Durst haben."
Jesus ist Gottes Geschenk
an die Welt, ein Geschenk aber, das selbstbestimmt Kontakt mit uns
aufnehmen will und uns über die sichtbare Welt hinausführt. Hunger und Durst nach Leben werden durch ihn, der das Leben selbst ist, gestillt.
Das tut er durch seine
Liebe zu uns. Ich weise manchmal auf die etwas kitschigen Jesusbilder
hin, die hier mitgenommen werden können. Auch wenn ich aus
ästhetischen Gründen andere Jesusbilder bevorzuge, zeigt dieser
Barmherzige Jesus mit seinem liebevollen Blick doch das eigentlich
Wichtige des christlichen Glaubens: Gott schaut uns in Jesus
liebevoll an. Er liebt uns aus vollstem Herzen, so sehr, dass er sich
selbst für uns verschwendet – und am Abend vor seinem Tod beim Mahl mit den
Seinen wieder das Bild des gebrochenen Brotes verwendet. (Aber
darüber in der nächsten Woche mehr.)
Das Gefühl, so
unglaublich geliebt zu werden, kann unser Herz erfüllen und satt
machen, auch wenn wir noch so oft aneinander und an Jesus vorbeireden
und -leben. Die Liebe füllt die Gräben unseres Unverständnisses
problemlos auf.
Denn Jesus hat als Mensch
verstanden, was wir eigentlich wollen – und er bietet es uns an.
Der große Hunger in uns,
der nicht will, dass unser Leben so bleibt, wie es jetzt ist, dieser
Hunger muss nicht mit Drogen oder eigener Stärke gestillt werden.
Denn wir bekommen das
Wichtigste geschenkt. Dazu müssen wir uns einlassen auf die
Beziehung mit ihm – wir werden geliebt und lernen, ihn und mit ihm
mehr und mehr alle Menschen zu lieben.
Eine große Vision. Aber
eine, die seit 2000 Jahren gut durchgebacken ist und darauf wartet,
weiter gelebt zu werden.
Die Liebe glaubt alles, erträgt alles, hofft alles. Pietá, Kapelle im Wilhelm-Kempf-Haus, Naurod, 2018. |
1 J.
Woodson, Ein anderes Brooklyn. München 2018.