Der heutige
Evangelientext (Lk 11,1-4) bietet die Version des Vaterunsers aus
dem Lukasevangelium.
Die Jünger Jesu wollen
von ihrem Meister wissen, wie sie beten sollen. Jesu Antwort ist
knapp und deutlich, aber sie lohnt einen näheren Blick, da es sich
ja um das wichtigste Gebet der Christen handelt.
Ich konzentriere mich auf
drei Aspekte.
Der Vater wartet. Neukölln, Berlin, 2015. |
1. Vater unser im
Himmel
Gott lässt sich von uns
als Vater anreden. Und damit als der, von dem wir herkommen. Das
heißt, wir sind ihm von unserem Ursprung her ähnlich und nahe.
Gott spricht zu jedem
Einzelnen: Du kommst von mir – und ich wünsche mir, dass du
auch nach mir kommst und mir immer ähnlicher wirst. So ist
Gott als Vater zugleich der, der liebevoll wartet, dass wir zu ihm
kommen.
Eigentlich ein komisches
Bild: Gott wartet auf uns. Aber genau so stellt Jesus uns Gott vor in
seinem Gleichnis vom Verlorenen Sohn: Der Sohn hat Mist gebaut und
alles ausgegeben, was er hatte und kommt nun kleinmütig wieder –
da steht sein Vater schon mit offenen Armen da und nimmt ihn in
Empfang.
Je nachdem, welche
Erfahrungen wir selbst mit unseren Vätern gemacht haben, wird uns
das rasch einleuchten oder auch nicht.
Wer den eigenen Vater nur
als einen Arbeitenden, der spät nach Hause kommt, erlebt hat, oder
als einen, der vielleicht sehr ungeduldig und aufbrausend ist,
möglicherweise als einen, der seine Wut nicht im Griff hat, dem
bietet sich Gott mit einem gänzlich anderen und neuen Vaterbild an.
Gott ist zunächst ein
Vater, der da ist. Er versteckt sich nicht, wenn wir ihn suchen und
er bleibt nicht in seinem Himmel, wenn wir uns auf den Weg zu ihm
machen. Sondern er ist da und wartet und kommt uns in Jesus sogar
entgegen.
Weiter ist Gott ein Vater,
der uns liebevoll anschaut und uns bittet, bei ihm zu sein. Er ruft
uns immer wieder. Dafür muss er sehr geduldig sein. Denn wir machen
immer wieder, was wir wollen und oft genug ist das nicht anwesend
sein, geduldig sein, liebevoll sein.
Schließlich ein
Stolperstein: Gott liebt uns alle. Ich halte das deshalb für einen
Stolperstein, weil es uns so schwer fällt, zu glauben, dass dieser
Stinkstiefel da für Gott genauso liebenswert sein soll wie ich. Aber
genauso ist es: Dieser Vater-Gott liebt jede und jeden. Ob wir im
Gefängnis sitzen oder ob wir dort arbeiten. Ob wir drogenabhängig
sind und zum x-ten Mal rückfällig geworden sind oder ob wir unsere
Süchte einigermaßen unter Kontrolle haben. Ob wir schnell
zuschlagen oder uns dauernd vom Leben geschlagen fühlen.
Wer also im Gebet Gott als
Vater anspricht, der verlässt sich beruhigt darauf, dass Gott mit
ganzer Liebe da ist. Dass Gott ihn erwartet.
Und er sieht seine
Nachbarn ebenfalls als Gottes geliebte Kinder an.
2. Vergib uns unsere
Schuld – wie auch wir vergeben unseren Schuldigern
Eben klang es schon an,
dass der Vater in Jesu Gleichnis ein vergebender und großzügiger
Vater ist.
Aber im Vaterunser wird
darüber hinaus davon gesprochen, dass nicht nur Gott uns vergibt,
sondern auch wir unseren Nachbarn.
Manch einer mag sich
fragen: Was hat meine Schuld mit der Schuld meines Nächsten zu tun?
Auf einer rein
juristischen Ebene ist beispielsweise klar, dass die eine Straftat
dieser Person und die andere Straftat jener Person nicht direkt
miteinander zu tun haben. Und es ist auch klar, dass ein Richter sein
Strafmaß nicht davon abhängig macht, ob ich sonst ein netter Mensch
bin.
Wenngleich, es deutet sich
an, wenn manche Aspekte einen Einfluss auf den Schuldspruch und
später die Strafdauer haben: gibt es eine Einsicht in die Schuld,
gibt es das Bemühen um Wiedergutmachung, gibt es Vorstrafen in der
gleichen Richtung oder gibt es sie nicht?
Vergeben statt am Rad drehen. Fangschleuse, 2016. |
Vor Gott ist klar, dass
wir alle schuldig werden und Vergebung brauchen, egal ob ein
irdischer Richter etwas dazu sagt oder nicht.
Und vor Gott geht es zwar
auch um unsere Taten – aber in erster Linie geht es ihm um unser
Herz.
Wenn wir Gott um Vergebung
bitten, dann öffnen wir ihm unser Herz. Und unser geöffnetes Herz wird
auch offen sein für die Anderen. Für jene, die an uns schuldig
geworden sind, für jene, die bei uns Schulden haben, für jene, die
unsere Großzügigkeit brauchen.
Das heißt nun aber von
der anderen Seite her nicht, dass wir einfach so Schulden machen
können, von der Großzügigkeit anderer leben und diese ausnutzen
(ich habe hier vor allem die im Gefängnis allgegenwärtige
Tabakfrage vor Augen).
Aber es bedeutet, dass wir
als Menschen, die etwas geschenkt bekommen, auch anderen schenken können und sollen.
Konkret auf Vergebung
bezogen: Wo wir merken, dass uns vergeben wird, dass wir uns nicht
mehr in der Schuld suhlen müssen, dass uns aufgeholfen wird – dort
müssen auch wir selbst nicht kleinlich sein, sondern können es uns
leisten, nachsichtig mit den Schwächen unserer Nächsten zu sein.
Wer also so betet, der
kann nicht selbstgerecht auf Andere herabsehen, denn er weiß, dass
er selbst auch Vergebung und Verzeihung nötig hat. „Ja es
ergibt sich das Erschütternde, dass er an sich selbst staunend
erfährt, wie ihn die eigene Unzulänglichkeit und
Heruntergekommenheit erbarmender macht", wie es Gertrud von
Le Fort ausdrückt.1
3. Führe uns nicht in
Versuchung
Hier versteckt sich eine
der kniffligsten Fragen für Christen überhaupt: Wie kommen wir mit
den Versuchungen zurecht? Also mit all dem, was so leicht bei uns
andocken kann und uns dabei doch nach unten zieht und kaputt macht.
Das Vaterunser geht davon aus, dass Versuchungen zum Leben dazu gehören.
Viele Menschen hier im
Haftkrankenhaus kennen dies aus therapeutischen Kontexten: In mir
will etwas unbedingt. Da geht es um Triebkontrolle oder um
Bedürfnisaufschub, darum, nicht schon wieder rückfällig zu werden
und so fort.
Die Religionen kennen
diese Problematik seit langem: Im Buddhismus ist eines der
wichtigsten Ziele, um ins Nirwana zu kommen, dass man nicht weiterhin
Dinge will. Es geht also darum, sein Herz nicht an etwas zu hängen
und sich innerlich immerzu danach zu verzehren. Mit anderen Worten:
die Versuchung gar nicht erst groß werden zu lassen. Auch das
Judentum hat vor beinahe 3000 Jahren in den Zehn Geboten formuliert:
"Du sollst nicht das Haus deines Nächsten begehren. Du
sollst nicht die Frau deines Nächsten begehren, nicht seinen Sklaven
oder seine Sklavin, sein Rind oder seinen Esel oder irgendetwas, das
deinem Nächsten gehört." (Ex
20,17)
Für jeden, scheint dieser
Text sagen zu wollen, lauert die Versuchung woanders und jeder muss
für sich hören, was er denn so unbedingt haben will und dagegen ankämpfen.
Für die einen mag es eine
Versuchung sein, wenn ich jetzt eine bestimmte Tablettenschachtel
hier hinlege, für die anderen wäre es vielleicht eher eine
Versuchung, wenn ich meinen Schlüssel oder das Funkgerät hier
liegenließe und den Raum kurz verlassen würde.
Das Entscheidende
geschieht auch hier im Inneren. Denn wir können Gott zwar bitten,
dass wir nicht in die Versuchung geraten (wozu es in diesem Jahr eine
spannende theologische
Debatte gab), aber wenn wir einmal versucht werden, müssen
wir uns zu dieser Versuchung eben verhalten. Und wir alle wissen, dass das
mitunter schneller geht als man so glaubt.
Aber als Menschen haben
wir immerhin die Möglichkeit, uns unterschiedlich zu verhalten. Denn
wir können in die Distanz zu uns selbst zu gehen – uns selbst
anschauen als herausgeforderte und manchmal überforderte Menschen.
Und in dieser Distanz vielleicht leichter eine Antwort finden, als
wenn wir mitten in der Versuchung feststecken.
So lässt sich vielleicht
von den Buddhisten die Frage abschauen, was es denn ist, das mir
wirklich hilft und mich weiterbringt. Ist es das „Anhaften" an
den Dingen, die (Sehn-)Sucht nach meinen kleinen Hilfsmitteln und
Muntermachern, das ständige Habenwollen?
Was bringt mich im Leben
weiter, der kurzfristige Kick und die Befriedigung meiner
unmittelbaren Bedürfnisse und Triebe – oder gibt es andere Wege?
Wenn wir also beten, dass
Gott uns nicht in Versuchung führen solle, dann bedeutet das auch,
darum zu bitten, dass wir klarer erkennen, was uns gegen die
Versuchung hilft. Wir müssen jeder für sich einen guten Grund finden, um der Sache, die uns erst wie magisch anzieht und dann
runter zieht, nicht schon wieder auf den Leim zu gehen.
Wer darum betet, von den
Versuchungen verschont zu werden, der weiß um seine eigene Schwäche.
Der kann mehr und mehr üben, mindestens zeitweise zu sich und seinen
Neigungen in Distanz zu gehen. Der wird sich einen überzeugenden
Grund suchen, der Versuchung nicht nachzugeben.
Zum Mitnehmen bleiben also
vielleicht diese drei Punkte:
1. Wir können uns darauf
verlassen, dass Gott als naher, geduldiger und gütiger Vater auf uns
wartet.
2. Wir können selbst
vergeben und barmherziger werden, weil wir wissen, dass wir nicht
besser sind als die anderen.
3. Wir können üben,
unsere hinderlichen Bedürfnisse und Triebe aus innerer Distanz
wahrzunehmen und uns nicht von ihnen kapern zu lassen.